Alaa El-Aswany – Chroniques de la révolution égyptienne – 2011
Warum kommt Ägypten nicht auf die Beine?
Mubarak und sein System sind schuld, längst wissen wir es. Auch heute sieht es nicht besser aus. Und längst hat das ägyptische Volk neue, schmerzhafte Erfahrungen mit neuen Präsidenten hinter sich und die jüngsten Entwicklungen geben wenig Anlass zur Hoffnung. Doch Demokratie ist ein mindestens jahr-zehntelanger Lernprozess, wenn nicht mehr, wie Europa leidvoll in seiner Geschichte erfahren musste. Wer Genaueres über das verblichene, wenn auch tief verankerte System Mubarak erfahren will, schlägt dieses Buch auf.
In fünfzig Essais fängt der berühmteste zeitgenössische Schriftsteller Ägyptens und Arzt Alaa El-Aswany typische Episoden aus den Jahren des Mubarak-Regime und später der ägyptischen Revolution ein. Ausgehend von einer Anekdote des Alltags, Ereignissen aus der Zeitung oder einer Begegnung in seiner Umgebung, analysiert er schonungslos die Verhältnisse im Lande. Warum, beispielsweise, fällt Ägypten wirtschaftlich zurück, während andere Länder vorankommen? Oder „Warum sind die Islamisten so auf den Körper der Frauen fixiert?“ Und regelmässig bringen ihn seine Überlegungen und Beobachtungen zu dem einzig möglichen, optimistischen Schluss „Die Demokratie ist die Lösung“. Um all diejenigen zu widerlegen, für die „der Islam die Lösung“ ist.
Jeder Essai ist klar gegliedert und könnte auch für sich alleine stehen. Kein Wunder, denn die Texte sind eine Auswahl aus insgesamt 83 Zeitungsartikeln, die der Autor und politische Aktivist in den letzten drei Jahren vor der Revolution verfasst hat. Als Oppositioneller, in Demonstrationen wie in Vorträgen, in Talk-Shows, Interviews und Zeitungskolumnen setzt er sich unermüdlich für den Kampf für die Demokratie ein. Seine Anhänger bewundern ihn für seinen Mut und seine Hartnäckigkeit. Unerschütterlich in seinen Über-zeugungen verteidigt er ruhig und höflich immer wieder seine Werte und analysiert die Verhältnisse mit bemerkenswerter Klarsichtigkeit.
Streng in seinen Analysen versucht El-Aswany, für seine Positionen zu werben und kämpft hartnäckig um eine wirkliche Demokratie in Ägypten. Er arbeitet sich an dem korrupten Regime ab, an der parteiischen Justiz, an den menschenunwürdigen Zuständen in den Krankenhäusern, der Folter und den Übergriffen des Staates. Nicht besser kommen die ungleichen Rechte der Frauen weg, der Hass unter den religiösen Gemeinschaften, die falschen Interpretationen des Islam, die Vetternwirtschaft in dieser Diktatur oder wie Mubarak mit seinen Günstlingen jeglichen Fortschritt des Landes blockierte, nur um sich an der Macht zu halten.
Die im Buch ausgewählten 45 Artikel betrachtet El-Aswany als die repräsentativsten und gliedert sie in vier Kapitel: In „Präsidentschaft und Nachfolge“, das Volk und die soziale Gerechtigkeit“, „Meinungsfreiheit und politische Unterdrückung“ und schliesslich „die Revolution ist noch nicht am Ende“, kann sich der des Französischen kundige Leser ein Bild vom Zustand Ägyptens und seinen Spannungen, Widersprüchen und Schwierigkeiten machen, die oft genug noch heute Geltung haben. Dabei ist der englische Buchtitel aus dem gleichen Jahr „On the state of Egypt“ durchaus bezeichnend.
Das erste Kapitel unter dem Titel „Präsidentschaft und Nachfolge“ illustriert die politische Sackgasse des Landes, wobei El-Aswany insb. gegen die Einsetzung des Mubarak- Sohnes Gamal als seinen Nachfolger durch Hosni Mubarak kämpfte und den ex-Präsidenten der IAEA, Mohammed El-Baradei, favorisierte. Wie es scheint, ist die Geschichte über diesen wohl inzwischen hinweg gegangen.
Im zweiten Kapitel „Das Volk und die soziale Gerechtigkeit“ erläutert er all die Übel, an denen die ägyptische Gesellschaft krankt : Allen voran die Armut, gefolgt von der Verachtung des Volkes durch die Polizei und andere Mächtige, auch im Krankenhaus, bis hin zum religiösen Extremismus und seinen Aus-wirkungen auf Frauen und Kopten. Erhellend seziert er das Denken der Islamisten nicht nur im Lande, sondern auch ihren Einfluss aus dem arabischen Umfeld, vom Golf über Saudi Arabien bis Somalia.
Dem Ursprung dieser Übel wird dann in dem dritten Kapitel „Meinungsfreiheit und politische Repression“ nachgegangen, in dem der Autor verschiedene Beispiele für die polizeiliche Willkür anführt und die Denkungsweise von Polizei und Militär im Spannungsfeld zwischen Islam, Folter und Diktatur entlarvt. Für den Autor ist das Land unfähig zur Reform und versinkt wegen politischer Blockade in der Rückständigkeit. Für jeglichen Fortschritt des Landes seien Freiheit und Demokratisierung unabdingbar.
Dem Einbruch der Revolution, als Aufbruch gefeiert, sind die letzten fünf Essais gewidmet. Die Lage sei (noch) besorgniserregend. Das alte Regime ist noch nicht tot, das Volk quer durch alle Strömungen gespalten. Gefährliche Allianzen zeichnen sich ab. Manch einer ist die Veränderungen schon leid und die Flamme der Revolution müsse immer wieder angefacht werden, wieder und wieder geht das Volk auf die Strasse. Eine Revolution später, da Ägypten in einer neuen, alten Sackgasse eines starken Mannes (des Militärs) zu versinken scheint, trifft vieles, was El-Aswany beschreibt und erklärt, auch heute noch zu.
Am Schluss untersucht er fünf Positionen zur ägyptischen Revolution, die der Revolutionäre, der Zuschauer, der Feinde der Revolution, der Moslembrüder und des Militärs. Seine Warnung „nicht eine Diktatur gegen eine andere auszutauschen“, kommt wahrscheinlich zu spät. Geradezu gespenstisch wirkt die letzte Szene, in der er beschreibt, wie ein Double von Mubarak im Gefängnis sitzt und dieser selbst weiter ungerührt in Freiheit die Fäden zieht. Nur eine literarische Figur?
Seine Sprache ist klar und schnörkellos, er stellt viele rhetorische Fragen, argumentiert humorvoll, gar zärtlich und voller Mitgefühl für die Menschen – doch unerbittlich, wenn es um seine Gegner geht, die sein Land daran hindern, den Platz einzunehmen, der ihm s.E. zukommt. Selbst wenn er immer wieder dieselben Wahrheiten einhämmert, wird es nie langweilig.
Sein grösster Erfolg in Ägypten und weltweit, „Der Jakubijân-Bau“, erschienen 2007 bei Lenos, zeichnet ein liebevolles Bild der Bewohner aller Klassen eines Mietshauses in Kairo, das zum Mikrokosmus Ägyptens wird. Es ist sogar verfilmt worden. Wie „Der Spiegel“ feststellte,»… Der Jakubijân-Bau erzählt von politischer Korruption, Folter im Gefängnis, islamischem Extremismus, ausserehelichen Beziehungen und Homosexualität. Bricht also mit sämtlichen Tabus der modernen ägyptischen Gesellschaft und trifft sie mitten ins Herz.“ Sah El-Aswany die Lage damals noch blockiert, so glaubt er heute an den Fortschritt seines Landes.
Wer also etwas über die Hintergründe der Verhältnisse im Lande erfahren will, und zwar über politische Tagesanalysen aus den Medien hinaus, dem kann man dieses Buch nur ans Herz legen, zur Not auf Englisch.
Alaa El-Aswany „Chroniques de la révolution égyptienne“, 2011, verlegt bei Actes Sud
Beispiel aus „Chroniques de la révolution égyptienne », Alaa El-Aswany
Warum um alles in der Welt stellen die Ägypter so den Frauen nach, in welcher Form auch immer?
Die endlosen Belästigungen in Ägypten seien übrigens erst neueren Datums, circa seit Anfang der Achtziger Jahre, erläutert der ägyptische Autor El-Aswany. Vorher, zum Beispiel in den Siebziger Jahren, sei Ägypten nämlich im Orient ein modernes, fortschrittliches Land (unter Gamal Abdel Nasser) gewesen. Damals seien Badeanzüge für Frauen akzeptiert gewesen. Die Mode des Minirocks und noch knapperer Kleidungsstücke habe sich in jenen liberalen Jahren bis hin nach Ägypten verbreitet, getragen an der Uni, bei der Arbeit und in den öffentlichen Verkehrsmitteln. Die Konservativen mochten sich zwar darüber aufregen, mehr sei aber nicht passiert. Und im 19. Jahrhundert gar sei Ägypten sehr fortschrittlich und die ägyptische Frau Pionierin aller arabischen Frauen gewesen. In den Siebziger Jahren sei sie in allen Bereichen des öffentlichen Lebens vertreten gewesen, sie war die erste, die studierte, die einen Beruf ausübte, auch die erste, die ein Auto fuhr (da staunen die Saudis!), und sie steuerte ihr eigenes Leben und das anderer Menschen nicht nur am Boden, sondern sogar in der Luft! Und auch in der Politik habe sie ein Wörtchen mitzureden gehabt, im Parlament wie auch als Ministerin. Man könne also mit Fug und Recht behaupten, dass die Belästigung der Frauen heute eine importierte Krankheit ist! Importiert woher? Importiert aus den Golfstaaten, mit dem Öl-Manna der ägyptischen Arbeiter, die in die Heimat zurückkehren. Und via Satellitenfernsehen flimmert wahabitisches/salafistisches Gedankengut aus Saudi Arabien über den Äther und sickert in die Hirne.
Selber schuld, sagen die Islamisten zur Belästigung der Frauen. Warum laufen sie auch so rum?! Na klar, das Opfer will es ja nicht anders! Die Männer können halt ihre Triebe nicht beherrschen und müssen sich wie die Tiere aufführen. Warum müssen die Frauen auch unbedingt hautenge Jeans oder gar Kleider an- oder sich halbnackt ausziehen?! Wenn sie sich „ordentlich“ (sprich : züchtig) anzögen, hätten sie auch keine Probleme.
Denkste! Neuere Studien beweisen, dass 75 % der Opfer von sexueller Belästigung in Ägypten verschleierte Frauen sind, weiss unser Autor! Die Islamisten haben eben grundsätzlich und überhaupt ein Problem mit den Frauen. Wenn man sie nur abschaffen könnte, die Frauen, mögen sich die Islamisten manchmal sagen, wäre alles viel einfacher. Von wegen! Nur sind sie ohne Frauen alles andere als bessere Menschen, wie wir bei manch einem Terroristen des 11. September erlebt haben. Mann und Frau sind nun mal auf Gedeih und Verderb aufeinander angewiesen.
Die wirklichen Ursachen für die sexuelle Belästigung liegen in der Art und Weise, wie die Islamisten die Frauen betrachten, schreibt unser Autor. Ich meine, „betrachten“ im übertragenen Sinne. Wann betrachten sie schon mal Frauen im Konkreten, im real life?! Dürfen sie doch gar nicht! Sei´s drum, für sie sind Frauen eben keine menschlichen Wesen wie die Männer mit all ihren äusserlichen Attributen und Fähigkeiten, sondern unmündige Wesen, irgendwas zwischen kleinen Kindern und Haustieren, würde ich sagen. Für sie ist die Frau nichts anderes als ein Objekt, eine Ware (schlimmer als im Westen), ein Körper, Mittel zum Vergnügen der Männer und Gebärapparat. Da die Frau unfähig zu selbstverantwortlichem Leben sei, müsse man sie immer unter Aufsicht halten. Sie könne ihre Instinkte nicht beherrschen (genauso wenig wie die Männer). Warum? Die Frau sei nun mal die geborene Verführerin (denken Sie nur an Eva und die Geschichte mit dem Apfel), selbst wenn sie das Gegenteil behaupte. Sie sei eine Art „Zeitbombe“, wenn nicht gar eine „Sexbombe“. Ergo gefährlich.
Und genau deshalb müsse sie sich verschleiern, diese „Zeitbombe“. Hier bestätigt der Autor einmal mehr, dass die Ganzkörperverschleierung mit Augenschlitz, der Niqab, hingegen keineswegs eine Vorschrift des Islams sei! Der Niqab habe nichts mit Religion zu tun, sondern sei vielmehr eine Tradition der Wüstensöhne aus vorislamischer Zeit. Der ursprüngliche Islam habe die Frau respektiert und ihr die gleichen Rechte wie den Männern gewährt, erinnert der Autor. Ja, die Theorie… kann ich da nur sagen – und die Praxis? Die Frau konnte lernen, arbeiten, z. B. als Krankenschwester, am öffentlichen Leben und manchmal sogar am Kampf teilnehmen. Erst in den Jahrhunderten der Dekadenz nach Beginn des islamischen Zeitalters im Jahre 620 n. Chr. habe sich diese Einstellung geändert.
Der Niqab nehme den Frauen ihre menschliche Dimension, kritisiert er. Und auch mit Niqab verhüllt seien die Frauen nicht sicher vor Vergewaltigung, weder in Saudi Arabien noch in Ägypten heutzutage. Weil sie eben nur als Körper wahrgenommen werden. Nun gebe es aber dummerweise überall auch gutaussehende Männer, wirft der Autor maliziös ein. Und da die Frau sich bekanntlich nicht unter Kontrolle habe, müsste sich eigentlich auch der Mann verschleiern – weil sonst dem Laster wieder Tor und Tür geöffnet sei… Streng genommen, ja.
Wie sieht es nun in Wirklichkeit aus in der besten aller Welten? Ist Saudi Arabien ein Hort der Tugend?! Wo die Tugendpolizei als moralischer Anstandswauwau Tag und Nacht ihre Bürger und Bürgerinnen kontrolliert. Wo die Gesellschaft die Männer von den Frauen strengstens segregiert und alle Frauen den Ganzkörperschleier tragen müssten, der nur einen Augenschlitz übrig lässt. Wo, wenn nicht dort, müsste die sexuelle Belästigung ausgerottet sein. Mitnichten!
Die Statistiken zeigen uns, sagt El Aswani : Ein Viertel aller saudischen Kinder (!) zwischen 6 und 11 Jahren wird Opfer sexueller Belästigung. 82 % der saudischen Oberschüler leiden unter sexuellen Problemen, was niemanden überraschen dürfte. Null Aufklärung oder Information, null Praxis. Alles tabu. Aber schlimmer noch, im Jahre 2008 seien 850 saudische junge Mädchen wegen Aggressionen von zuhause weggelaufen, grösstenteils sexueller Art, und zwar wegen Aggressionen von Familienangehörigen. Alles erlaubt. Von wegen Sittenstrenge, alles Heuchelei. Niemand scheint sich beherrschen zu können, nirgendwo. Der alte Adam ist nicht auszurotten.
Aber es gibt ja den Fortschritt, den technischen jedenfalls. Auch in den Golfstaaten sehen die Zahlen nicht besser aus. 47 % der jungen Leute erhielten obszöne Angebote auf ihren Handys, was in der saudischen Gesellschaft zu einer tiefen Krise geführt habe. Die sexuellen Energien, die auch die Saudis nicht völlig unterdrücken können, suchen sich eben einen Ausweg, wo sie können.
Wenn der Niqab nicht vor sexuellen Übergriffen schütze, wozu sei er dann eigentlich nütze? Grössere Tugendhaftigkeit werde nicht durch immer weitergehende Repression erreicht, sondern allein durch bessere Erziehung und Bildung, erkennt unser Autor. Ein anderes Thema.
Das Grundübel der Gesellschaft sei, dass die jungen Männer keinen Respekt mehr vor den Frauen hätten, ein anderes Wort dafür heisst „Achtung“. Sie verwechseln das wohl eher mit „Verachtung“. Sie hätten vergessen, dass es dabei auch um ihre Mütter, ihre Schwestern und ihre Töchter geht. Er empfiehlt, man sollte den Männern viel stärker vor Augen halten, zu welchen Leistungen die Frauen imstande seien, wenn man sie nur liesse. Und beklagt, dass das Land als Ganzes ohne den Beitrag der Frauen niemals aus der Unterentwicklung herausfinden könne.
Eins müsse man hingegen der ägyptischen Gesellschaft zugutehalten: Nicht alles liegt an den bösen Männern. Auch sie seien Opfer, Opfer der Verhältnisse, der wirtschaftlichen und sozialen. Als da wären, sexuelle Bedürfnisse dürfen sich nur in der Ehe ausleben, das Heiratsalter wiederum rückt immer weiter rauf, allein schon aus finanziellen Gründen; verstärkt durch Arbeitslosigkeit, Armut, Frust, Leere und das Gefühl der Ungerechtigkeit. Der Ungerechtigkeit in jener ägyptischen Gesellschaft, deren Wirtschaft nicht auf die Beine kommt, gegängelt von einem Diktatur, der einen daran hindere dorthin zu reisen, wohin man will. Doch das ist eine andere Geschichte.