Ein Mädchen aus Namibia, Spielball der deutschen Geschichte
Wie erlebt ein afrikanisches Mädchen, in der DDR aufgewachsen, die deutsche Wiedervereinigung? Und wie kommt sie in der unbekannten „Heimat“ klar, in die sie plötzlich zurückkatapultiert wird?
Das Schicksal der Lucia Engombe, die ab 1979 im Alter von 7 Jahren fast elf Jahre lang bis 1989 in der DDR in einem Kinderheim für die namibische Elite lebte, zeigt uns, wie eng Deutschland und seine frühere Kolonie Südwest, sprich : Namibia, spätestens in den Zeiten der Wende miteinander verflochten waren. Wer von den vielen deutschen Touristen, die alljährlich Namibia besuchen, gerne mehr über Land und Leute erfahren möchte, dem lege ich das Schicksal dieses namibischen Mädchens ans Herz. Es illustriert auf ergreifende Art, wie die Verhältnisse im Lande unter der „Befrei-ungsbewegung“ SWAPO vor der Unabhängigkeit 1990 wirklich waren – und wie ein namibisches Mädchen der zukünftigen namibischen Elite in der früheren DDR gross wurde, auf der Schnittstelle des deutsch-deutschen Verhältnisses. Und schliesslich vorzeitig heimkehren musste in ein Land, das ihr völlig fremd war und in dem sie „die Deutsche“ war. Und in dem sie sich daran machte, in ihrer neuen/ alten Umgebung etwas von ihren Träumen zu retten und die Stücke ihrer von der SWAPO versprengten Familie wieder zusammenzusetzen. Einer der nicht seltenen „Kollateralschäden der Weltgeschichte“.
Einfühlsam schildert die spätere Journalistin Lucia, ein hübsches Mädchen mit offenem Gesicht, halblangen, afrikanischen Zöpfchen und strahlendem Lächeln, ihren Werdegang in einfachen Worten. Nichts lässt vermuten, was sie in ihrem Leben alles durchmachen musste, zerrissen zwischen Deutschland und Afrika.
Der Reiz des Buches liegt dabei zunächst in der Schilderung ihrer – wenn auch grausamen – Kindheit in Namibia, fernab von afrikanischer Idylle, überschattet von den Angriffen der südafrikanischen Armee – und geprägt von Angst, Hunger und Flucht. Da werden in der Not schon mal Raupen oder weisse Mäuse verputzt. Mit fünfeinhalb erlebt sie nicht nur ihre erste Liebe, sondern macht auch die Bekanntschaft von Kalunga, dem lieben Gott. Zu ihm betet sie in der Not. Denn Gefahren drohen allerorten, sei es von anderen Jungs in der Schule, die sie schon im Kindergarten vergewaltigen könnten, sei es von Bombenangriffen der Flugzeuge. Die südafrikanische Armee bombardiert schonungslos Flüchtlingslager der marxistischen SWAPO bis nach Angola hinein, bei deren Massaker schon mal Hunderte von Menschen auf der Strecke blieben. Lucias Mutter, eine Krankenschwester, wird später zum Medizinstudium nach Moskau verbannt. Der Vater, Schuldirektor, wahlweise Spion der Südafrikaner oder Verräter, wird zusammengeschlagen und verschwindet. Wie wir heute wissen, ging die SWAPO mit ihren Kritikern alles andere als zimperlich um. Lucia wird im Glauben gelassen, er sei tot. Ihre drei Geschwister werden von der SWAPO anderweitig in Afrika verschickt.
Und dieser Reiz nimmt eine neue Richtung mit ihrer Ankunft in der DDR, ihren Jahren im Internat Schloss Bellin in Mecklenburg. In vielen kleinen Szenen erzählt Lucia lebendig vom alltäglichen Freud und Leid der Kinder dort. Der Kontrast könnte nicht grösser sein für Lucia und die Leserin, als sie, das Ovambo-Mädchen, 1979 mit sieben Jahren unerwartet die Chance ihres Lebens erhält, dem Elend ihres Landes zu entfliehen. Fortan sollte sie in der DDR zur Schule gehen, wie insg. ca. 500 andere namibische Kinder. Andere Kinder landeten in Kuba und der Tschechoslowakei. Welch ein Aben-teuer! Im Schloss Bellin gab es nicht nur genug zu essen, Äpfel, ein warmes Bett, Zahnpasta, sondern sogar Schnee, den man aber besser nicht ass! Für die Leserin, die Namibia bei zwei Besuchen aus eigener Anschauung kennengelernt hat, gibt es manch schockierende Entdeckung. Auch der Alltag der afrikanischen Mädels im DDR-Internat bietet dem Wessi viel Neuland zu entdecken.
Und was hatte es mit der SWAPO auf sich? Diese marxistische Befreiungsbewegung wollte zwar das Land vom südafrikanischen Mandat, sprich: Joch befreien, hatte jedoch von Angola aus eine Macht-übernahme nach kommunistischem Muster vor, um freie Wahlen unter UN-Kontrolle zu verhindern! Trotzdem hatte dieselbe UNO Jahre zuvor, 1973, nicht nur die SWAPO als rechtmässige Vertretung Namibias, sondern auch die DDR als eigenen deutschen Staat anerkannt.
Nicht viele in unseren Breiten wissen oder erinnern sich an die Kontakte der SWAPO mit der SED-Führung in den Siebziger Jahren, wobei Parteichef Sam Nujoma damals bei beiden deutschen Staaten vorstellig wurde. Nur liess ihn die BRD wegen ihres Alleinvertretungsanspruches abblitzen, entweder sie oder keiner. Ebenso wenig war damals bei uns bekannt, dass – wie Lucia später schildert – die SWAPO in jenen Zeiten eine Menge eigener Leute, alles „Abweichler“ und „Volksverräter“, umbrachte.
Doch davon konnte Lucia während ihrer behüteten Kindheit in Bellin zum Glück noch nichts ahnen. Behütet und bewacht schon allein deshalb, weil die SWAPO auch im Ausland Racheakte ihrer Gegner fürchtete. Stattdessen geht sie brav zur Schule und lernt die deutsche Sprache und liebt ihre Märchen. Sie entdeckt das Fernsehen und begeistert sich für Winnetou wie viele Gleichaltrige im Westen auch. Ihr Alltag dort ist ziemlich idyllisch, auch wenn die Politik immer wieder mal herein-funkt, die heimische, afrikanische, auch vor der innerdeutschen Wende. Die teils kranken, teils traumatisierten Kinder freunden sich mit mancher ostdeutschen oder namibischen Erzieherin an, die sie über die abwesende Familie hinwegtrösten. Auch Lucia sehnt sich oft nach ihrer Mutter, zu der es ihr kaum gelingt, Kontakt in Moskau aufzunehmen. Immer wieder wirft ihr das „System“, DDR wie SWAPO-Geheimdienst, Knüppel zwischen die Beine. Bei einem Besuch in Bellin erzählt ihr die Mutter von der Zeit, als sie ein halbes Jahr lang mit den Kindern mehr als 1000 km quer durch Afrika fliehen musste und sie mit ihnen auf dem Rücken hochwasserführende Flüsse in Afrika überquerte. Und auch vom Vater spricht sie, dem angesehenen Schuldirektor, den Südafrika ins Gefängnis steckte. Lucia war noch zu klein, um sich zu erinnern. Auch das unklare Schicksal ihres geliebten Vaters quält sie. Ist er wirklich tot?
In ihrer durchgetakteten Freizeit bereiten benachbarte SWAPO-Soldaten die Kinder auf ihr Leben in der freien Heimat vor, mit Pfadfinderspielen und Nachtmärschen, sie lernen, was Disziplin ist, marschieren wie kleine Soldaten, die SWAPO-Pioniere. Sie üben sich im Kämpfen, später im Schiessen. Sogar Präsident Nujoma schaut ab und zu herein. Die Schule versucht, die Kinder mit allerlei folkloristischem Zirkus wie Rundhütten im Schlosspark und afrikanischen Tänzen nicht zu sehr von Afrika zu entfremden.
Lucia ist eine begabte Schülerin und eine sehr gute Läuferin, sie entwickelt sich im Internat. Erlebt aber auch die Gefahren durch Teacher Jonas aus Namibia, und seine Schläge waren noch das Harmloseste, eine zehnjährige Freundin von ihr hatte besonders zu leiden… Eines Tages ist er verschwunden.
Die Sommerferien verbringen die 50 Kinder an der Ostsee, wo sie sich pudelwohl fühlen. Andere Kinder aus Angola, später Mozambique, zwei weiteren „sozialistische Bruderstaaten“, stossen zu ihnen. Fünf Jahre später müssen alle in die Nähe von Magdeburg in ein grosses Internat umziehen, die „Schule der Freundschaft“, voll mit 700 Jungen und 200 Mädchen. Lucia ist traurig, ihre „Familie“ verlassen zu müssen, die einzige, die sie hat. Kubanische und vietnamesische Jugendliche, die dort ihre Berufsausbildung absolvieren, lenken sie ab. Sie macht Fortschritte in Bruchrechnung, mit Hilfe von Aprikosenkuchen. Die Kinder wachsen heran, nehmen Kontakte mit den Mosis auf, wie sie sie nennt.
Doch die Mosis müssen bald zurück nach Mozambique, sagen sie, und nicht alle wollen das. Manch einer sucht ein Mädchen aus der DDR zum Heiraten, damit sie hierbleiben können. Lucia indes hat Angst, Angst vor der Liebe, Angst vor dem Krieg. Ein Mädchen wird schwanger, soll gar nach Angola zurückgeschickt werden, wo sie von der Familie verstossen werden würde. Das Mädchen treibt ab. Teenie Lucia hat Angst, ihr könnte das Gleiche passieren, hat ein Stopp-Schild im Kopf. Die Leserin zittert mit ihr.
Draussen in der Welt kommt die politische Lage allmählich in Schwung. Nach Verhandlungen mit den USA, Angola und Kuba erklärt sich Südafrika bereit, im Rahmen eines UN-Friedensvertrages die Besatzung Namibias aufzugeben. In der Sowjetunion wirkte inzwischen ein gewisser Michael Gorbatschow. Der Kommunismus verliert langsam seine Schrecken, auch in Afrika. Bis November 1989, kurz nach den ersten freien Wahlen vom 7.-11.89, zogen die südafrikanischen Streitkräfte unter Überwachung der UN-Einheit UNTAG vollständig ab. In Deutschland war am 9.11.89 die Mauer gefallen. Man beachte die Gleichzeitigkeit der Ereignisse! Lucias Schicksal wäre ein Fernsehfilm wert zu den alljährlichen Feierlichkeiten zur deutschen Wiedervereinigung.
Nach dem Waffenstillstand 1988 ordnet Präsident Nujoma an, dass alle Namibier nach Hause zurückkehren sollen. Lucia fühlt sich zunächst nicht betroffen. Doch im Sommer 1989 setzen sich die DDR-ler zunehmend in den Westen ab. Sie merkt, ein Staat löst sich allmählich auf, ein anderer, weit entfernt, entsteht. Die SWAPO kontrolliert noch immer die Post der Namibier. Missmutig stellen die Jugendlichen fest, dass sie keinerlei Privatsphäre haben und die Schule nicht viel besser als ein Gefängnis ist. Der Bazillus der Freiheit hatte sie infiziert. Als die Mauer fällt, entdecken auch die namibischen Jugendliche die „andere Seite“. Tanzen plötzlich zu westlicher Musik in der Disko. Lehrerkollegen gehen mal kurz „Westen gucken“. Schnell noch versuchen die SWAPO-Oberen die Mädels angesichts der sich abzeichnenden unklaren Zukunft mit SWAPO-Soldaten vor Ort zu verkuppeln, damit sie „in Sicherheit“ sind und mit ihnen nach Namibia zurückkehren können. Ohne Abi und ohne Ausbildung. Reaktion der Mädels: „Ich lass mir doch keinen Mann zu Weihnachten schenken“. Lucia selbst ist verwirrt. Was sollte aus ihr werden? Wohin würde sie mit fast 17 gehen, ganz allein? Würde ihre Mutter nach Windhoek kommen, nun, da ihr Studium fertig war? Alles war plötzlich offen und möglich. Aber ungewiss.
Auch die Kluft zwischen den Namibiern und DDR-lern wächst. Sie hören schon mal Rufe wie „Deutschland den Deutschen“. Im einzigen Farbfernseher des Heims sieht Lucia die Vereidigung von Präsident Nujoma am 21.3.1990. Namibia ist frei! Namibia verhandelt nun mit Deutschland über die Zukunft der Jugendlichen. Lucias Mutter schreibt der Tochter von ihrer neuen Stellung als Farm-managerin in Windhoek. Lucia träumt von einem Medizinstudium, als in jenem Sommer das Ferienlager ausfällt!
Nun überschlagen sich die Ereignisse. Am 31.8.90 wird der deutsche Einigungsvertrag unterzeichnet. Und als noch ein Elternkomitee gar behauptet, die SWAPO hielte namibische Kinder gegen ihren Willen im Ausland zurück, gibt es kein Halten mehr. Hals über Kopf werden die Jugendlichen am 25. August nach Windhoek ausgeflogen, Lucia mit ihrem „Survival kit“ aus Duplo, Kinder-Schokolade, Seife und Zahnpasta im Gepäck. Würde ihre Mutter sie abholen? Fragen über Fragen für Kind Nr.95.
Beklommen blickt sie auf das braune Land unter sich, unzählige Hütten, die sich kahle Berge hoch-zogen, ein paar Hochhäuser. Was das „das gelobte Land“? Ein Kulturschock erwartet sie und die Leserin.
Das Leben auf der Farm der Mutter ist eine weitere herbe Umstellung. Alles ist fremd. Um fünf Uhr Aufstehen, ein Zimmer mit Cousine und Söhnchen, Wäsche waschen (selbstverständlich ohne Wasch-maschine), im Gemüsegarten arbeiten, den ganzen Tag lang Pap (Maisbrei) kochen, denn sie ebenso verabscheut wie ihr Magen. Und kein deutsches Fernsehen. Die Mutter erzählt ihr, wie schwer es ihr gefallen sei, in der Heimat wieder Fuss zu fassen. Zum Glück habe ihr Präsident Nujoma geholfen. Lucia fragt nicht weiter nach. In Deutschland hatte sie wie eine Weisse gelebt, hier lebt sie wie eine Schwarze, findet sie.
Sie kann aufatmen, als die Mutter sie in der Höheren Deutschen Schule in Windhoek anmeldet. Wegen der Entfernung der Farm soll sie bei einer deutschen Pflegefamilie wohnen. Auch die Umstellung auf diese Elite-Schule ist für sie als „DDR-Kind“, wie sie genannt wird, nicht einfach, von den Kosten ganz zu schweigen. Und die Apartheid ist gerade erst abgeschafft. Lucia strengt sich an, kämpft mit der Hitze, versagt beim 800 m-Lauf.
Ihr Leben nimmt eine neue Richtung, als die Mutter ihr einen Zeitungsartikel vorlegt, wonach der Vater noch lebt, und zwar im Norden. Lucia ist aufgewühlt, fängt an nach Informationen über ihn zu suchen, beschäftigt sich mit Politik. Sein Schicksal ist ein Thema für sich. Inzwischen stattet Präsident Nujoma ihrer Mutter, seiner Freundin, einen Besuch ab… Diese gesteht, vom Vater geschieden zu sein. Afrikanische Realitäten. Lucia begreift, ihre Familie gibt es nicht mehr.
Auf einem Weihnachtsbesuch im nördlichen Ovamboland sieht Lucia ihren Bruder Martin wieder, der weiss, wo der Vater wohnt. So macht sich auf die Suche. Auch mit ihrer Schwester kommt sie wieder in Kontakt. Schulschwierigkeiten belasteten sie weiter, der neue Englischunterricht, sie muss die Klasse wiederholen, die Mutter (und auch die SWAPO) kann das Schulgeld nicht mehr bezahlen. Lucia wird bei deutschen „Kapitalisten“ auf einer Jagdfarm untergebracht, mit Pool, wilden Tieren und deutscher Küche, ist begeistert, lebt auf. Das Bilderbuch-Afrika.
Am Ende gelingt es Lucia, den Vater im Norden des Landes nicht nur aufzuspüren, sondern ihn auch zu treffen. Nach einer bewegenden Aussprache mit ihrem Daddy, nun ein „Sugar Daddy“ mit einer Geliebten, die seine Tochter sein könnte, begreift sie endlich, was mit ihrer Familie all die Jahre geschehen war. „Das Private war für die SWAPO das Politische“, erläutert ihr der frühere Oppositio-nelle. „Nicht wenige Familien sind von der SWAPO in Stücke gerissen worden“. Sie hatten tüchtig gelernt, in Europa… Viel mehr soll an dieser Stelle nicht verraten werden. Lucia bleibt grübelnd zurück. Und sie hätte es schlimmer treffen können! Sie hatte immerhin viel Hilfe erfahren, konnte das Abitur machen und einen Beruf erlernen.
In Windhoek laufen Jungs herum, liebe Leserin, die betteln im Park um Mitleid und Geld für ihr verpfuschtes Leben.
Lucia Engombe : „Kind Nr. 95“ – „Meine deutsch-afrikanische Odyssee“, Ullstein 2008