Terroranschläge – Warum immer wieder Frankreich?!
Diese Fragen haben sicherlich schon viele Menschen, vor allem auch in Deutschland im Zeichen der Flüchtlingskrise von 2015, umgetrieben. Manch deutscher Politiker fragt sich dann besorgt, wie wir in Deutschland mit all den muslimischen Neubürgern „französische Verhältnisse“ verhindern und Integration ermöglichen können. Der renommierte französische Islamologe Gilles Kepel gibt mit seinem neuesten Buch „Terreur dans l´Hexagone“ eine Antwort, ausgehend von den traumatisierenden Terroranschlägen vom 13. November 2015 in Paris.
In einem Rückblick auf die Entwicklungen im Lande und weltweit die letzten 10 Jahre analysiert er den Weg des französischen Dschihadismus seit 2012. Dessen Anfänge datiert er auf 2003/5 (Irak) zurück.
Auch ich hatte mir jüngst diese Frage gestellt, eingedenk der mir unvergessenen Vorstadtunruhen des Herbstes 2005 in Frankreich. Was war seitdem alles schief gelaufen? Nach der Lektüre legte ich das Buch ratlos und deprimiert aus der Hand. Aber ichverstehe jetzt viel besser, warum Frankreich sich so standhaft weigert, (weitere) Flüchtlinge aufzunehmen.
Aufstände in den französischen Banlieues 2005
Für Gilles Kepel waren die sozialen Aufstände des Jahres 2005 der Beginn der Inkubationszeit des Terrorismus in Frankreich. Am Anfang standen zwei tote Jugendliche aus der Trabantenstadt Clichy-sous-Bois, die sich nach einem Fussballspiel wegen eines angeblichen Einbruchs in eine Baracke in ein Trafohäuschen geflüchtet hatten und dort umkamen. Es gab ein für diese Umstände ungewöhnliches Polizeiaufgebot, und das in einem Kontext von Armut, Diskriminierung und insb. hoher Jugendarbeitslosigkeit(40-45 %) . Für die vielen jungen Leute in den Vorstädten führt dies zu akuter Perspektivlosigkeit. Jahrzehntelang waren diese Viertel von der Politik vernachlässigt worden, keine rasche Verkehrsanbindung an Paris, kaum Freizeitangebote, mangels Alternativen blieb nicht viel mehr als Kleinkriminalität übrig. Wahre Gettos. Dieses Polizeiaufgebot an jenem Tag wirkte auf die ohnehin frustrierten Bewohner wie eine Provokation und verstärkte noch ihren Zorn wegen des Todes der beiden Jugendlichen. Denn die Polizei wird von ihnen weniger als Freund & Helfer denn als Gegner empfunden!
Nach diesem Polizeieinsatz explodierten die Vorstädte in den folgenden drei Wochen förmlich: 300 öffentliche Gebäude wie Schulen, Sportanlagen oder Postämter, von denen die Bevölkerung selbst profitiert, in Brand gesteckt, 9000 Fahrzeuge ebenso mit der Folge von Schäden in Dutzenden von Millionen Euro, 130 Verletzte. Die Bürgerkriegsbilder dieser meist spontanen, unkoordinierten Unruhen flackerten allabendlich über die französischen Bildschirme, so dass sich das Land zum ersten Mal seit dem Bürgerkrieg in Algerien (1954-1962) gezwungen sah, den Ausnahmezustand zu verhängen. Der damalige Innenminister Nicolas Sarkozy liess sich obendrein leichtsinnigerweise zu dem unvergessenen Ausspruch hinreissen, „gegen dieses Gesindel (!) müsse man mit dem Kärcher vorgehen“, was nur noch Öl ins Feuer goss! Ihm hat es allerdings zwei Jahre später die die Präsidentschaft eingebracht. Was für eine menschenverachtende Mentalität!
Ausräucherung der Moschee Bilal
Verschlimmert hatte die Unruhen dabei noch der Tränengaseinsatz in der Moschee Bilal, von den Beteiligten als Ausräucherung empfunden, ein Schlüsselelement der Aufstände, das nicht als zufällig erachtet wurde, sondern als von der Polizei geplante Aktion gegen muslimische Gläubige. Und da kam zu dem sozialen Aspekt der religiöse Aspekt, der bis dato nicht im Zentrum der Unruhen stand. „C´est la guerre“, befand ein Augenzeuge. Dies also eine Anleitung, wie Integration nicht läuft.
Heute hat sich die Lage äusserlich verbessert, die Massenarbeitslosigkeit besteht jedoch noch immer, das Potential für eine neue Explosion der Gewalt ebenso. Nur dass heute die Dschihadisten versuchen, die Lage für sich auszunutzen und der Front National Islamophobie anheizt und polarisiert.
Einstieg der Immigrantenkinder in die Politik
Eine Folge der Vorstadtunruhen in Frankreich war immerhin eine massive politische Beteiligung der ausländischen Mitbürger, wie wir sagen würden, an den folgenden Kommunalwahlen, mit einer Vielzahl von Kandidaten und einer Bekräftigung ihrer islamischen Identität. Ersteres könnte man positiv werten, letzteres gibt eher Anlass zu Sorge. Denn 2005 war mit dem politischen Engagement der ersten, in Frankreich geborenen und erzogenen Generation der nordafrikanischen Immigrantenkinder, ein neues Zeitalter des Islam in Frankreich angebrochen – zeitgleich mit der Entwicklung des internationalen Dschihadismus hin zu einer dezentraleren Organisation mit stärkerem Fokus auf Europa. Die Dschihadisten dieser Generation setzten dabei im Wesentlichen auf junge, europäische (diskriminierte) Moslems. Das bekamen 2005 zunächst die Briten mit den Anschlägen auf die Londoner U-Bahn zu spüren.
Das Jahr 2005 verzeichnete noch weitere Ereignisse, die Islamophobie nur befördern konnten. Man denke nur die Ermordung des holländischen Videokünstlers Theo van Gogh wegen seines provokativen Films mit dem Titel „Soumission“ (Unterwerfung), der dem Multikulturalismus in den Niederlanden den Todesstoss gab. Auch in dem kleinen Dänemark war Provokation angesagt: die sogenannten Mohammed-Karikaturen der Zeitung „Jyllands-Posten lösten einen weltweiten Sturm der Empörung der Moslems wegen Gotteslästerung gegen Dänemark aus. Ein Vorgeschmack auf das Aufkommen des selbsternannten Islamischen Staates in Syrien und Irak zehn Jahre und einige Anschläge später. Frankreich als laizistischer Staat kennt seinerseits übrigens kein Gesetz gegen Gotteslästerung (kann sie also nicht verhindern…). Auch das Verbot des Tragens des Hijab in französischen Schulen 2004 aus selbigem Grunde trug bestimmt nicht zu einer Entspannung des Klimas bei.
Dschihadisten-Vordenker Al-Suri will Bürgerkrieg in Europa
An dieser Stelle stellt Kepel dem interessierten Leser einen dschihadistischer Vordenker vor, dessen Analyse und strategischen Ziele für die Terroristen der heutigen Generation nach wie vor wegweisend und geradezu visionär sind: Der Syrer aus „Londonistan“ Abu Musab al-Suri und späterer PR-Chef von Al-Qaida mit Verbindungen zum Terrornetzwerk GIA in Algerien (!). Sein „Appell zum weltweiten islamischen Widerstand“ ist bis heute gültig und wichtig und wurde mindestens damals sträflich unterschätzt. In diesem Appell analysiert er die historische Entwicklung des Dschihadismus seit den 80er Jahren, von Osama Bin Laden in Afghanistan bis hin zu Al-Qaida und ihrem letztendlich selbstzerstörerischen Rundum-Terrorismus gegen die muslimischen Bevölkerungen, vor allem vor Ort. Suri seinerseits setzt vielmehr auf eine Art Dschihadismus „der Nähe“, d.h. um es klar zu sagen, „auf die Herbeiführung einer Bürgerkriegssituation in Europa“. Und das sollten erst recht heutzutage Politiker aller Couleur stets deutlich vor Augen haben! Diese Dschihadisten wollen nicht weniger als einen Bürgerkrieg mithilfe von Teilen der muslimischen (frustrierten) Jugend Europas, die schlecht integriert ist und revoltiert, gefolgt von entsprechender Indoktrination und militärischer Ausbildung im Nahen Osten. Auf dieser Art soll der Feind unterhalb des Radars von Politik und Polizei unterwandert und praktisch von innen heraus zerstört werden, von seinen eigenen Kindern!
Alle nachfolgenden Terroristen, von Mohammed Merah (drei Anschläge in Midi Pyrénées) bis jüngst zu Abdelhamid Abaaoud (Attentate vom 13.11.15) über die Brüder Kouachi (Anschlag auf Charlie Hebdo) berufen sich auf ihn.
Ein wichtiges, wenn nicht entscheidendes Element ist laut Kepel die Verbreitung dieser Anleitung zum Aufruhr bis hin zum Dschihadismus durch das Aufkommen der sozialen Netzwerke, 2005 angefangen mit den Videos auf Youtube und gefolgt von Facebook im gleichen Jahr. Der Computer erweitere die Kampfzone von lokal/regional auf weltweit, mit sofortiger Resonanz.
Kepel zeichnet nun den Weg der 3. Generation, die der Kinder der Immigranten des Jahrgangs 1984 (2. Generation = Al-Qaida + Al-Jazeera, 1. Generation = Mujaheddin in Afghanistan + Fax) im Zusammenhang mit den jeweils neuesten Medientechnologien nach. Auch die Revolutionen des Arabischen Frühlings 2011 erleichtern die Verbreitung des Textes und bestätigen ihn gar, besonders hinsichtlich der staatlichen Auflösung von Syrien und Libyen 2012/13. Damit entstehe ein Relais der Dschihadisten vom Nahen Osten in Auflösung bis nach Europa und hinein in die europäischen Vorstädte.
Konsequenzen aus der kolonialen Vergangenheit Frankreichs in Algerien
Immer wieder nimmt Kepel Bezug auf die koloniale Vergangenheit Frankreichs in Algerien und den dortigen Unabhängigkeitskrieg als ein Belastungsfaktor französischer Politik. Algerier oder auch Algerienfranzosen haben sich in der Folge gerne im Süden Frankreichs niedergelassen, wovon später noch zu sprechen sein wird.
Das macht – zum Glück – einen Unterschied zur Lage in Deutschland.
Nicht minder wirft der algerische Bürgerkrieg in den Neunziger Jahren, als der Wahlsieg der Islamisten 1992 durch die aus der FLN hervorgegangene Einparteien-Regierung unterdrückt wurde, immer noch seine Schatten. Die Reaktion lautete Repression und Kampf gegen diese islamistischen Gruppen, gerne in die Nachbarschaft von Terroristen wie Al Qaida gerückt. Was zu sagenhaften 100.000 Toten durch den GIA-Terror führen sollte.
Der algerische Bürgerkrieg fand allerdings in Frankreich mit Terrorakten des GIA im Lande bei den postkolonialen Immigranten der Elterngeneration nur wenig Widerhall. Diese arbeiten hart, um ihren Kindern eine Zukunft zu bieten, investieren in Immobilien, widerstehen Ausländerfeindlichkeit und Arbeitslosigkeit. Sie sind nicht bereit hinzunehmen, dass jahrzehntelange Sparanstrengungen und Arbeit von ein paar Verrückten zunichte gemacht werden sollen. Frankreich kommt in den Genuss von 16 Jahren Ruhepause, ohne Attentate, bis zum Jahre 2012 und dem Attentat von Montauban auf eine Gruppe junger Fallschirmjäger, bei dem sieben getötet wurden.
Über den Algerienkrieg und dessen nachhaltigen Einfluss auf die französische Politik bis heute sind sich viele Menschen in Deutschland kaum noch im Klaren. Man muss sich nur einmal vorstellen, dass Algerien keinesfalls als Kolonie betrachtet wurde, sondern vielmehr als integraler Bestandteil des Mutterlandes! Fleisch vom Fleische… Mit einer Million europäischen Siedlern im Lande, bei einer Bevölkerung von 9 Millionen. Die algerische Bevölkerungsmehrheit besass die französische Staatsangehörigkeit, nicht aber die vollen Bürgerrechte, wie etwa das aktive und passive Wahlrecht. Politische Ungleichheit und wirtschaftliche Diskriminierung führten dann mehr und mehr zu Unruhen im Lande. Hundertausende von Algerienfranzosen, die „Pieds Noirs“, flohen ins Mutterland ebenso wie Zehntausende algerische Flüchtlinge, die Harkis, die mit den Franzosen zusammengearbeitet hatten. Manch einer von uns mag sich noch an das Stichwort „OAS“ im Zusammenhang mit Attentaten in Europa erinnern. 1961, ein Jahr vor der Unabhängigkeit in Madrid ins Leben gerufen, kämpfte diese französische „Geheimarmee“ für den Verbleib Algeriens bei Frankreich. Der jahrelange Befreiungskrieg endete erst 1962 mit der Unabhängigkeit. Er brachte über den Import der Konflikte in die französische Politik hinein sogar die IV. Republik unter Premierminister Pflimlin zu Fall durch einen Putsch der Algerienfranzosen und Nationalheld Charles de Gaulle als Präsident an die Macht. Dieser entschied sich schliesslich im Abkommen von Evian 1962 doch für die Unabhängigkeit Algeriens. Kein Wunder, dass die Erinnerung an diese schweren Zeiten in beiden Ländern auch heute noch schmerzt. Ein wenig erinnert dies daran, wie bei uns die Vertriebenverbände zu Zeiten mit dem Verlust der deutschen Ostgebiete umgegangen sind, nur dass beide im heutigen deutschen Bewusstsein kaum mehr eine Rolle spielen.
Islamisten-Inkubator Gefängnis
Kepel stellt immer wieder die Beziehungen der Terroristen des 13.11.2015 in Paris in früheren islamistischen Kontext im Lande heraus, nicht zu vergessen den Bezug zur internationalen Lage. Am Beispiel diverser Protagonisten – ob Prediger, Vordenker, Krimineller oder Terrorist -,erläutert er die politische Entwicklung während der letzten 5-10 Jahre. Dabei schöpft er aus seinem umfassenden Fundus an Kenntnissen über die gesamte Bandbreite des Nahen Ostens, vom Maghreb bis zum Mashrek (Syrien, Libanon etc.). Er analysiert verschiedene Originaltexte der Dshihadisten. Das Buch ist nicht ganz einfach zu lesen. Der nicht-bewanderte Leser kann schon mal in den Mäandern der Personen, Zeiten und historisch-politisch-sozialen Analysen und dem Werdegang sowie den Beziehungen der diversen „Starterroristen“ den Überblick verlieren.
Wie hat sich der zunächst unauffällige, nicht-religiöse Kleinkriminelle Merah (Attentat von Toulouse) radikalisiert? Wie so oft, war er im Gefängnis mit radikalen Islamisten wie z.B. Salafistenpredigern in Berührung gekommen. Ein zentrales Problem heutzutage, nicht nur in Frankreich. Die heutigen „Starterroristen“ und ihr unvermeidlicher Nachschub an Verzweifelten, die nichts mehr zu verlieren haben, wären nicht diejenigen geworden, als die sie heute enden – gäbe es nicht den Inkubator „Gefängnis“. Die Gesellschaft sperrt diejenigen weg, mit denen sie sich nicht mehr zu helfen weiss und hofft, dass sich das Problem so – mit der Zeit – von selbst erledigt. Leider nein, ganz im Gegenteil! Für die inhaftierten Dschihadisten ist das Gefängnis DER ideale Platz zum Missionieren ihrer muslimischen Mitgefangenen, wobei ihnen die schlechte Behandlung durch die „Ungläubigen“ noch zusätzliche Argumente liefert. 2015 wird das Gefängnis als Anwerbeort für neue IS-Anhänger in Frankreich direkt in der Hauspostille des sog. IS „Dabiq“ erwähnt. Zum Beweis führt Kepel einen gewissen Boubaker Al-Hakim an, stadtbekannter Anhänger des sog. IS von der Moschee „Stalingrad“ in Paris an, der sich über die Perspektiven des Dschihad in Frankreich äussert und den Gefängnisinsassen ganz direkt empfiehlt, „Sucht euch keine besonderen Ziele aus! Tötet einfach irgendjemand! Alle Ungläubigen dort (in Europa) sind Ziele!“ Das haben sie mittlerweile beherzigt, auch in Deutschland 2016.
Während der „Ruhepause“ von 1996 – 2012 war in grossen Gefängnissen wie Fleury-Mérogis ausreichend Zeit für Kontakte unter Dschihadisten-Lehrlingen, um sich gegenseitig aufzuheizen. Das Ganze versehen mit dem theoretischen Rüstzeug von Al-Suri. Das Gefängnis wird zum Kristallisationsort aller Fehlentwicklungen in den Vorstädten, die dort noch verschärft werden. So wie die Nachrichtendienste die Wandlung der Dschihadisten nach 2005 mithilfe des Cyber-Dschihad im Netz verpassen, so verschlafen die französischen Behörden auch die Entwicklungen in den Gefängnissen. In denen der Islam mittlerweile zahlenmässig die wichtigste Religionsgemeinschaft (50-65 % aller Insassen)geworden ist! In deutschen Gefängnissen mag die Lage vielleicht nicht so akut, aber vermutlich ebenso unterbelichtet sein. Und immer wieder zeigt sich das gleiche Profil der Terroristen: Jüngere Männer, mit niedrigem Schulabschluss oder gar keinem, aus armen oder dysfunktionalen Familien. Problematisch sind an diesen trostlosen Orten selbstverständlich auch die betreuenden Imame, meist aus dem Ausland importiert und der Sprache nicht mächtig, die oft genug „Krieg und Gewalt“ predigen. Und immer in der üblichen Opfer-/Anklagehaltung gegen den Westen, der den Moslems übel mitspielt, wenn er sie nicht gar vernichten will!
Doch der französische Staat ist blind und soll diese Ignoranz in den Jahren nach 2005 noch teuer bezahlen.
Innenpolitische Entwicklungen nach den Unruhen von 2005 und Weltwirtschaftskrise 2008
Naturgemäss räumt Kepel den innenpolitischen Entwicklungen in Frankreich grossen Raum ein, die einem deutschen Leser vielleicht zu weit gehen könnten. Trotzdem lohnt sich ein Blick darauf!
Kepel führt also aus, wie konservative Politiker wie Sarkozy nach den Aufständen von 2005 im aufkommenden Präsidentschaftswahlkampf für 2007 enttäuscht nicht länger die konservativen Muslimverbände umwerben, sondern diese vielmehr den Platz dem Parti Socialiste, wenn nicht gar den Islamisten überlassen. Letztere jubilieren, treten sie doch für den für den Bruch mit der französischen Gesellschaft ein. Kein Wunder, dass die Fragen der Einwanderung und Integration im Wahlkampf an die erste Stelle der Sorgen der Bürger rückten.
Auch in der öffentlichen Meinung wendet sich das Blatt nach den Aufständen. Fast 45 % der Franzosen geben laut Kepel der Elterngeneration die Schuld für die missratenen Sprösslinge. Präsidentschaftskandidatin Ségolène Royal vom PS und Gegenspielerin von Sarkozy nutzt nun die Gelegenheit, sich von Sarkozy abzusetzen und kritisiert das Gesetz vom 23.2.2005, mit dem in den französischen Schulbüchern die „positive Rolle der französischen Anwesenheit im Ausland, insbesondere Nordafrika“ anerkannt werden soll. Mit anderen Worten, die Frage des Kolonialismus in Algerien. Für Ségolène Royal purer Revisionismus der Geschichte. Beiseite lässt sie indes die Frage der Beziehungen zum Islam und zur Laizität, aktueller denn je, die die Linke spaltet. Nach diesem Abstecher in die Innenpolitik kommt Kepel zu dem Schluss, dass die Aufstände in den Banlieues von 2005 für Frankreich eine wahre Zivilisationskrise darstellten.
Die Kinder der ersten Einwanderer ihrerseits wenden sich nun wie bereits erwähnt der Politik bzw. dem Parti Socialiste zu, mehr als ihre Eltern, die als Ausländer noch nicht einmal wahlberechtigt waren. Was oft nicht beachtet wird: Diese Nachkommen haben sich längst viel stärker mit der französischen Bevölkerung vermischt, als man meint. Bei sehr vielen Franzosen gibt es Vorfahren oder Verwandte aus dem postkolonialen Bereich, eine fundamental andere Lage als in Deutschland (bisher).
Und stets aufs Neue liefert die internationale Lage im Nahen Osten, in erster Linie der israelisch-palästinensische Konflikt, Zündstoff für eine politische Mobilisierung, wenn nicht Polarisierung in den Vorstädten.
Verschlimmert wird die sozio-ökonomische Gemengelage in Frankreich nun durch die weltweite Wirtschafts- und Finanzkrise von 2008, die schwerste seit dem Ende des 2. Weltkrieges. Arbeitslosigkeit und soziale Absicherung rücken für alle Franzosen in den Mittelpunkt ihrer Sorgen. „Es gibt keine Arbeit mehr“, ruft verzweifelt Farouk Khanfar, Kandidat für die Parlamentswahlen von 2012.
Und welche Antworten hatte die Politik darauf? Statt offensiv wirtschaftliche Fragen anzugehen (zu heikel in der polarisierten französischen Politik- und Gewerkschaftslandschaft), wird das Problem auf unterschiedliche Nebenkriegsschauplätze wie Fragen der Immigration, Rückbesinnung auf die französische Geschichte, Laizität und Islam verschoben. Die (zentrale) Frage von Diskriminierungen wird nur ganz diskret angesprochen. Kepel befindet, dass Fragen der Identität erneut die Wunden der Unruhen von 2005 aufreissen. Übrigens stand der rechte Front National, heute teils Schreckgespenst, teils letzte Hoffnung, damals historisch niedrig und niemand konnte sich eine Wiederbelebung vorstellen.
Bis der FN unter seiner neuen Chefin Marine Le Pen eine Möglichkeit sah, neue Anhänger durch einen stärkeren Fokus auf den Islam und die Moslems zu gewinnen, eine Chance für eine Modernisierung ihrer Partei, weg von nationalistischen Fragen. Damit sollte Sarkozy direkt in seiner Politik angegriffen werden. Hinzu kamen europapolitische (EU-Ausstieg) und wirtschaftliche Fragen, derer sich niemand sonst annehmen wollte. Der FN warnte vor der „islamischen Bedrohung“, vor allem durch die Scharia, man könne den Islam nicht an die französische Gesellschaft anpassen. Das bedeutete für den FN letztlich, keine Vermischung, sondern Ausgrenzung.
Morde aus politisch-religiösen Motiven, Salafisten aus Saudi Arabien
Kepel analysiert nun spezifisch die berühmt gewordenen Attentate im Südwesten Frankreichs und befasst sich mit den islamistischen Kreisen in der Region Midi-Pyrénées. Der franko-algerische Attentäter (!) Mohammed Merah tötet am 19. März 2012 drei (jüdische) Kinder und ihren Lehrer in Toulouse, genau 50 Jahre nach dem Waffenstillstandsabkommen von 1962. Tage zuvor hatte er vier französische Militärs (drei Tote) maghrebinischer Herkunft (!) in Montauban kaltblütig erschossen. Die Gespenster der Vergangenheit kehren zurück. Offen erklärt Merah Frankreich den Krieg! Dazu muss man wissen, dass in seiner Familie der Hass gegen Frankreich extrem war. Damit gerät Frankreich, so Kepel, zum einen in den Fokus des weltweiten Dschihadismus und zum anderen voll in die 3. Welle des von Al-Suri empfohlenen inländischen Dschihadismus.
Saudische Salafisten und der Islamophobie-Vorwurf
Zu islamistischen Extremisten zählen in erster Linie radikale Salafisten, die die Tötung von „Ungläubigen“ erlauben, Salafisten, die für das Jahrzehnt 2005-2015 charakteristisch sind. Die Anhänger der Salafisten wollen die „Hischdra“ in ein muslimisches Land praktizieren, also auswandern, und dort rein nach islamischem Vorbild leben. Manche träumen in diesem Fall von Syrien… welch ein Irrtum! Und wenn dies unmöglich sei, so sollen sie doch wenigstens in Frankreich in abgeschlossenen Gemeinschaften (quasi „extraterritorial“) ins innere Exil gehen. Radikale Salafisten halten auch die Demokratie (ergo Wahlbeteiligung) für mit ihrem Glauben unvereinbar, allein das Gesetz Allahs, die Scharia, dürfe herrschen. Ziel dieser Gruppierungen ist es, weitere Schichten der Bevölkerung zu radikalisieren, z.B. durch das Anprangern der angeblichen „Unterdrückung“ der Muslime in Frankreich unter dem Stichwort „Islamophobie“, Synonym und Totschlagsargument gegen all diejenigen, die den Islam oder die Muslime wagen zu kritisieren. Darin ähnele er dem Vorwurf des Antisemitismus von Zionisten, die jegliche Kritik wegen des Holocausts für unzulässig halten. Moslems beklagen dann die angeblichen „doppelten Standards“ gegenüber den Juden bzw. der Politik Israels (der der Westen alles durchgehen lässt).Die Islamophobie wird auch schon mal mutwillig geschürt in Form von Provokation der Staatsorgane durch totalverschleierte Frauen (im Netz), per Gesetz vom 11/10/2010 verboten. Manche Experten sprechen schon von einer rapiden Salafisierung in bestimmten französischen Vorstädten, ein gefährlicher Trend. Hier spielt Saudi Arabien eine wesentliche Rolle, das die muslimische Jugend in Europa zurückgewinnen will, die die proamerikanischen Petromonarchien nach der Invasion Iraks in Kuweit öffentlich anprangert. Es entsendet also wahhabitische Prediger nach Europa und Frankreich.
Terroristen wie Merah, so schliesst Kepel, wollen also Frankreich (mit 50 Jahren Verspätung) auf die Knie zwingen, ein Beispiel für die eingefleischten Ressentiments der Dschihadisten gegen die frühere Kolonialmacht Frankreich. Merah, Nemmouche, Kouachi, alle sind Franko-Algerier oder Algerier! Aus Frankreich kommen die meisten europäischen Kämpfer von Daesch, wie der sog. IS in Frankreich gern genannt wird. Spätestens der Sieg der Generäle 1992 in Algier gegen die Islamisten hat Algerien zu einem Reservoir von Dschihadisten gemacht. In den Nuller Jahren bleiben die Netzwerke der Radikalen in Frankreich aktiv.
Postachtundsechziger schliessen sich radikalen Islamisten im Südwesten an
Hier beleuchtet Kepel eine seltsame, paradoxe Bewegung : Rigorose Salafisten, die ihren eigenen „alternativen“ Stil im Gegensatz zur umgebenden „Ungläubigkeit“ pflegen, finden erstaunlicherweise im dechristianisierten, postlinken Milieu zahlreiche Anhänger. Eine neue Utopie in der Religion? Die bereits erwähnte Region Midi-Pyrénées wird bei Kepel am Fallbeispiel des Städtchens Artigat untersucht. Kepel erzählt die Geschichte dieses Ortes und der dortigen Salafisten-Gemeinschaft auf dem Lande, syrischer Herkunft, auf postlinken Wurzeln, deren Kinder der staatlichen Schule fernbleiben müssen und zuhause in der Scharia unterrichtet werden. Artigat wird zum Klein-Mekka der Region, sogar ein Zeuge Jehovas wechselt die Seiten. Islam liegt im Trend!
Auch Merah war diesem Milieu verwachsen und könne von daher nicht als Einzeltäter verharmlost werden. In der auf seine Anschläge folgenden öffentlichen Debatte um das Versagen der Geheimdienste wird denen zum Vorwurf gemacht, sich nicht mit den sozialen, politischen und religiösen Wurzeln des Terrorismus befasst zu haben. Wie sieht es eigentlich mit Deradikalisierungsprogrammen in Frankreich aus?
Schulbeispiel Lunel, „Hauptstadt des französischen Dschihadismus“
Dem interessierten Leser möchte ich nun ein Schulbeispiel vorstellen, wie man es NICHT machen sollte. Lunel, ein mittelalterliches Städtchen von 25.00 Einwohnern zwischen Montpellier und Nimes, wurde 2014 zur Hauptstadt des französischen Dschihadismus gewählt, mit allein 20 nach Syrien Ausgereisten, davon 6 Toten, die höchste Anzahl in Frankreich damals.
Wie hat es soweit kommen können? Hätte man es anders machen können?
Die Region lebt traditionell vom Weinbau, der jedoch zurückgeht und die Stadt in den wirtschaftlichen Niedergang treibt. Rückgang der Grundstückspreise, Verödung des Stadtzentrums, aber Zuzug von sozial Schwachen aus den Schichten der ausländischen Neubürger, ca. ein Viertel der Bevölkerung sind Muslime. Eine Geburtenrate über dem nationalen Durchschnitt, eine Arbeitslosigkeit von 20 %, bei den Jugendlichen ausländischer Herkunft sogar 40 %. Hand in Hand gehen damit Probleme der Kriminalität wie z.B. Drogenhandel (befördert durch den im nordafrikanischen Rif-Gebirge traditionellen Haschischanbau). Alles in allem eine sehr arme Stadt.
Kulturell steht Lunel unter Druck, die intellektuellen Eliten, auch aus den Reihen von Absolventen der Einwanderer(kinder), verlassen die Stadt. In den letzten 30 Jahren verdreifacht sich die Einwohnerzahl, was zum Bau einer Neustadt führt, mit Sozialwohnungen und Einkaufszentren. Zu den Neubürgern zählen viele Immigranten aller Nationalitäten. Die Bevölkerung besteht aus vielen Maghrebinern aus Algerien und zahlreichen „Pieds Noirs“, durch die Unabhängigkeit von 1962 verjagt. Ab den 70er Jahren ersetzen die Marokkaner aus der Region Tiflet bei Rabat, mit Armut, kultureller Isolation und einem islamistisch-terroristischen Netzwerk die Algerier. Das Stadtzentrum entleert sich, Geschäfte ziehen weg, Einbrüche nehmen zu. die Bevölkerung ist frustriert, da sich ihre Hoffnungen auf sozialen Aufstieg nicht realisieren lassen. Die Linke muss diese Enttäuschung politisch bezahlen. Der rechte Bürgermeister von 2001 – 2014 stemmt sich mit mehr Polizei dagegen und versucht, den sozialen Frieden durch Ansprechpartner in der muslimischen Community zu sichern. Dort bestehen Rivalitäten, u.a. mit den algerischen Harkis, die für den FN stimmen. Die Stadtverwaltung betrachtet die Moschee unweit des Rathauses, längst zu klein geworden, als einen sozialen Regulator einerseits und einen Störfaktor andererseits. In den 80er Jahren hatte sich dort die pietistische Tabligh-Bewegung ausgebreitet, die versucht, die Drogensucht bei den Jugendlichen durch ein striktes, religiöses Korsett anzugehen.
Eine neue Moschee, Lösung und Problem zugleich
2010 weiht die Stadt eine neue, grössere Moschee ein, ausserhalb, da die vielen Gläubigen in der Altstadt sich oft schon auf dem Bürgersteig oder der Strasse davor aufhalten müssen. Gut gemeinte Idee. Allerdings zieht die grössere Moschee nun Gläubige aus der ganzen Region an, was auch das Missionieren durch radikale Elemente erleichtert. All das führt zu einer grossen Polarisierung in Lunel, stellt der Bürgermeister fest, zwischen einer zunehmend stärkeren Betonung von Werten des integristischen Islam und einer französischen Bevölkerung, mit ihren Elementen der machistischen „Tauromachie“ (Stierkämpfe, heidnischen Ursprungs), die davon eher genervt ist. Bei den Departementwahlen 2015 gewinnt nun der FN mit 41,59 % im 1. Wahlgang – wobei sich die muslimische Bevölkerung massiv enthalten hat! Lunel wird immer mehr zum sozialen Brennpunkt. Kritisieren kann man, ist, dass es keinerlei zivilgesellschaftliches Engagement gibt, um die beiden Teile der Bevölkerung zusammen- und nicht gegeneinander aufzubringen. Brückenbauen halt. Wie aber soll soziale Vermischung zustande kommen, wenn schon muslimische Schüler der Oberschule die Schulkantine boykottieren, weil sie nicht „halal“ ist? Ist es dafür zu spät?
An der Moschee von Lunel gerät der dortige gemässigte, eher apolitische Imam mit seinem Willen zum Dialog mit den Behörden nun seinerseits zwischen die Fronten. In den Augen radikaler Elemente wie den Moslembrüdern oder den Salafisten ist er geschwächt. Letztere betrachten den Imam gar als Konkurrenz, ganz zu schweigen von den Dschihadisten, für die er ein Hindernis auf dem Weg zur Gewalt ist! Sie wünschen ihn am liebsten zur Hölle. Nur, an wen sollen sich Jugendliche in familiärer Not oder auf der Suche nach Orientierung noch wenden? Kepel schildert die Schicksale zweier junger, ganz unterschiedlicher Jugendlicher, die Halt (in der Religion) suchten. Endstation Daesh, selbst bei Sprösslingen aus gebildeten, jüdischen oder christlichen Familien, auf dem Umweg über humanitäres Engagement nicht unmöglich.
Der Präsident des Moscheevereins von Lunel, aufgerufen, sich von Gewalt und Appellen zur Ausreise zu distanzieren, eiert herum, betont auch noch das Trennende der muslimischen Gemeinschaft zur Gesamtgesellschaft– ganz entsprechend den Vorstellungen seiner Schäfchen – anstatt zu versuchen, Konflikte zu entschärfen? So heisst es, die Moschee träfe keine Schuld, das seien alles individuelle Entscheidungen und die Ursache läge 6000 km entfernt. Verharmlosen.
Und die Kritik am radikalen Islam wird abgebügelt durch den Verweis auf hingenommene Ausreisen von französischen Juden zur israelischen Armee sowie die ganze, leider wahre, Latte der Missetaten der Juden im Nahen Osten. Endet mit der Kritik am französischen Präsidenten Hollande und seiner Syrienpolitik. Relativieren… Nein, wir sind nicht schuld, sondern vielmehr im Recht!
Vielleicht eine verständliche Reaktion, wenn man bedenkt, dass der Imam, ein Marokkaner, des Französischen nicht mächtig (!), von anderen Gemeinmitgliedern mit dem Tode bedroht wird, nachdem er schliesslich die Ausreisen von der Kanzel verurteilt, keine Seltenheit, auch anderswo. Letztendlich wird er wegen angeblichen Verrats (!) gegenüber den Franzosen von seiner Gemeinde zum Rücktritt gezwungen. Gut, der Autor der Drohungen wird gefasst. Aber daran sieht man, wie weit sich die Spannungen zwischen allen gesellschaftlichen Gruppen in Lunel bereits zugespitzt haben.
2015 wird Lunel, die „Hauptstadt des französischen Dschihadismus“, von dem Städtchen Trappes im Grossraum Paris abgelöst : Viermal so viele Syrienausreisende wie in Lunel. Ein kleiner Einblick in die oftmals verfahrenen gesellschaftlichen Verhältnisse in Frankreich und ein Schulbeispiel für den Königsweg der Radikalisierung bis hin zum Dschihad und den jüngsten Terroranschlägen 2015 und 2016 im Lande.
November 2016
Gilles Kepel „Terreur dans l´Hexagone“, Gallimard, 2015
http://www.bpb.de/internationales/europa/frankreich/152531/algerienkrieg
http://www.alsharq.de/2014/nordafrika/algerien/traum-und-trauma-der-algerienkrieg-und-seine-folgen/