Das Ende des Osmanischen Reiches
(I – Balkan : 1830 – 1913)
Bis heute verfolgen uns im Nahen Osten die Auswirkungen der Auflösung des Osmanischen Reiches, das mit der Ausrufung der türkischen Republik im Jahre 1923 gipfelte. Auch auf dem Balkan (insb. Griechenland) finden die meisten der aktuellen Probleme ihren Ursprung in jener Zeit. Dankenswerterweise widmete ARTE am 22 März vergangenen Jahres zwei Abende diesen historischen Entwicklungen.
Der erste Teil dieser sehenswerten Dokumentation, Gegenstand dieser Abhandlung, widmete sich dem „Vielvölkerstaat versus Osmanisches Reich“ mit Schwerpunkt auf dem Balkan. Der zweite Teil trägt den Titel „der berstende Nahe Osten“. Ausgangspunkt war die Unabhängigkeit von Griechenland 1830, das nicht weniger als 400 Jahre unter dem Osmanischen Reich lebte – ein nicht zu unterschätzender Aspekt bei der Beurteilung der Verhältnisse in Griechenland im Zeichen der Euro-Krise. Eine weitere, entscheidende Etappe, Vorstufe des Untergangs des Osmanischen Reiches, waren die beiden Balkankriege von 1912 und 1913, heute etwas in Vergessenheit geraten.
Kurzer Rückblick auf die Ursachen des Niedergangs des Osmanischen Reiches
Von 1299 etwa bis 1922 war das Osmanische Reich eine Großmacht, die sich über drei Kontinente und alle Weltmeere erstreckte. Ein Ort heiliger Stätten und die Heimat der drei monotheistischen Weltreligionen. Noch 1453 hatte es Byzanz besiegt und Konstantinopel zu seiner Hauptstadt gemacht. In weniger als 100 Jahren wurde es im 19. Jahrhundert zu Fall gebracht. Auf seinen Trümmern entstand die Welt, so wie wir sie heute kennen.
Ein gewichtiger Grund für den allmählichen Niedergang des Osmanischen Reiches begann mit dem Ende des Kalifats in Andalusien 1492 und der Vertreibung der Araber aus Westeuropa. Hinzu kommt, dass das christliche Europa im 16. Jahrhundert im Zuge der Renaissance den Aufschwung der Wissenschaften erlebt hatte, befördert durch die Entdeckung der Welt wie auch die Erfindung des Buchdrucks, mit dem all dieses Wissen verbreitet werden konnte. Das Osmanische Reich seinerseits verstrickte sich zunehmend in Korruption, Vettern- und Misswirtschaft und konnte immer weniger mithalten. Aufstände und Landflucht machten sich breit. Im Vergleich zu Europa fiel das Osmanische Reich technisch immer weiter zurück. Der Handel mit Indien stagnierte. Der Sultan in Konstantinopel verbot die Druckerpresse wenige Jahrzehnte nach ihrer Erfindung. Er rühmte sich, dass es in seinem Reich nur ein (einziges) Buch geben dürfe, den Koran. Zugang zu Wissen, gar eine Kultur des Lesens, war den Gläubigen bis ins 19. Jahrhundert hinein untersagt, ein Preis, für den die arabische Welt bis heute mit Rückständigkeit, wenn nicht Obskurantismus bezahlt. Sofern sie sich dieser Tatsache überhaupt bewusst ist. In der Zwischenzeit machte sich die christliche Welt die Aufklärung zu eigen, befreite sich von auch religiösen Denkverboten (wie manchen Bücherverboten seitens der katholischen Kirche) und entwickelte sich zunehmend zu modernen, demokratischen Staaten.
Im 19. Jahrhundert bröckelte das Osmanische Reichzunehmend durch den aufkommenden Nationalismus, angefangen mit Griechenland. Die Balkankriege von 1912 und 1913 waren ein weiterer Hinweis für das Aufbegehren der Völker. Gleichzeitig war der schwankende Riese Osmanisches Reich unfähig sich zu reformieren und mutierte zum „kranken Mann am Bosporus“. Dagegen konnte auch der mächtige Sultan Abdülhamid II. (1876 – 1909) nichts ausrichten. Die europäischen Mächte wollten nicht tatenlos zusehen und versuchten, sich Ressourcen und Gebiete des Osmanischen Reiches anzueignen. Der 1. Weltkrieg mit dem geschwächten Osmanischen Reich an der Seite Deutschlands und Österreich-Ungarns trug das Seine zum Niedergang bei. Die modernistische Revolution der Jungtürken gab dem Osmanischen Reich am Ende den Todesstoss.
Ausgangspunkt Bosnien-Herzegowina
Im 1. Teil seiner Dokumentation befasst sich ARTE zunächst mit der Lage auf dem Balkan, genauer gesagt in Sarajewo, der Hauptstadt von Bosnien-Herzegowina. Wir sehen das dortige Mahnmal für die Balkankriege (1991-1999), davon 1992-1995 der Bosnienkrieg, mit einem Graffitti „Willkommen in der Hölle“. In den Neunziger Jahren wurde Sarajewo drei Jahre lang von serbischen Nationalisten belagert, um die dortige vorbildliche Koexistenz von orthodoxen Serben, katholischen Kroaten und muslimischen Bosniern zu zerstören. Wie war die Lage unter dem Osmanischen Reich gewesen?
Manche behaupteten, die Menschen hätten sich dort schon immer gehasst. Das ist falsch, heisst es bei ARTE. Andere wiederum betrachten das Osmanische Reich im Nachhinein gerne als ein Goldenes Zeitalter. Auch das trifft nicht zu. Wahr ist, dass es trotz der sehr komplizierten Koexistenz kaum ethnische Spannungen gab. In Wirklichkeit herrschte dort aber grosse soziale Ungleichheit. Nichtmuslime waren den Muslimen untergeordnet. Christen und Juden konnten mit den Muslimen nebeneinander leben, ohne sich zu vermischen. 400 Jahre herrschte dort Stabilität, jedoch nur auf der Grundlage der Religion als Identität. Im 19. Jahrhundert bricht dieses System zusammen. Die neue politische Welt beruht nunmehr auf den Idealen der Französischen Revolution. Das Streben der Völker nach Freiheit und Unabhängigkeit rüttelt an den Grundfesten des Reiches. Schauen wir zunächst auf Griechenland.
Griechenlands Unabhängigkeit im Spielball der europäischen Mächte
Dem Beginn der Auflösung des Osmanischen Reiches auf dem Balkan kommt den Griechen eine Schlüsselrolle zu. 1821 erheben sich die Griechen als Erste gegen die Osmanen, Unruhen führen zu einem Unabhängigkeitskrieg. Schon vor dem Ende des 18. Jahrhunderts gab es ein griechischen Identitätsgefühl, basierend auf dem Erbe des antiken Griechenlands, erläutert ein griechischer Historiker, und vor allem auf der griechisch-orthodoxen Religion. Dieses Identitätsgefühl teilte die gesamte christliche Elite auf dem Balkan. Alle Christen in der Region hatten bis zum Ende des 19. Jahrhunderts dasselbe geistige Oberhaupt, der griechisch-orthodoxe Patriarch von Konstantinopel. Die griechische Nation war ein Vorbild für die anderen Minderheiten im Osmanischen Reich, mit erheblicher Sprengkraft. Auch dessen Feinde im Westen bemerkten das.
Unter dem Vorwand, den unterdrückten Christen auf dem Balkan zu Hilfe zu eilen, unterstützen Grossbritannien, Frankreich und Russland die griechischen Separatisten. Sie alle liebäugeln mit den osmanischen Gebieten in Europa wie auch im Orient. Durch seine zentrale Lage ist Griechenland von strategischer Bedeutung, vor allem für Russland, das die Seewege im Mittelmeer (bis heute) kontrollieren will. Eine griechische Historikerin erläutert, dass die ausländischen Mächte insb. Grossbritannien, die Seemacht im östlichen Mittelmeer, in der Region rivalisierende Interessen verfolgten, in dessen Zentrum Griechenland stand.
1829 verhandelten in London Frankreich, Griechenland und Russland über die Unabhängigkeit Griechenlands. Der Verlust Griechenlands war für sich genommen nicht sehr bedeutend, besass allerdings beträchtliche Symbolkraft. Seine Unabhängigkeit war der Auftakt für Aufstände, die das gesamte 19. Jahrhundert prägen und zum Verlust des Balkans führen sollten. Ein Trauma, das der türkischen Geschichte immer noch anhaftet.
Der Funke springt über : Von Russland ermutigt (!) erheben sich die serbischen und rumänischen Slawen und verlangen Autonomie. Der Trend geht zur Unabhängigkeit. Ein Historiker erläutert, es sei um den Übergang von einer rein konfessionellen zu einer nationalen Identität gegangen. Die jeweiligen Sprachen Griechisch, Serbisch und Armenisch beschleunigten diesen Nationalisierungsprozess noch.
1839 versucht der Sultan Abdul Megid einen nie dagewesen Reformprozess („Tanzimat“ 1839-1876) einzuleiten mit Freiheit und Sicherheit für alle osmanischen Untertanen und gesetzlicher und steuerlicher Gleichstellung aller Muslime und auch der Nicht-Muslime.
Die bosnische Krise im Zeichen von Nationalismus und Einmischungen der Grossmächte
Das bosnische Volk war im 19. Jahrhundert in zwei gegnerische Nationen gespalten: Die orthodoxen Christen (Landbevölkerung), die sich zu Serben erklärten, und die Muslime, Bosniaken genannt(Grundbesitzer), die ihre eigene Identität einforderten. 1875 brach eine Revolte der serbischen Bauern aus, eine nationalistische und zugleich ethnische Revolte. Immer wieder litten die Menschen unter Hunger, ein raues Klima und magere Ernten taten das Ihre. Überall auf dem Balkan griffen die christlichen Bauern zu den Waffen, in Bulgarien 1876 wurde der Aufstand von osmanischen Söldnern brutal niedergeschlagen, die unzählige Massaker begingen. Die westliche Presse berichtete, Europa ergriff Partei für die Christen im Osmanischen Reich. „Der Türke“ wird verteufelt wegen Gräueltaten an Christen, aber auch an der muslimischen Volksgruppe auf dem Balkan.
Balkankrise und Krieg zwischen Russland und Osmanischem Reich
1876 spitzt sich die Lage zu: Die bosnische Krise ist zur Balkankrise, DER Krise des Ostens geworden. Die osmanische Macht wankt. In Istanbul wird Sultan Abdul Aziz in einem Staatsstreich abgesetzt. Nachfolger wird Murat V., der als geisteskrank gilt. Im August dieses Jahres kommt sein Bruder Abdülhamid II. an die Macht. Als das Reich durch die Nationalbestrebungen auf dem Balkan und den Druck der Grossmächte zu zerbrechen begann, versuchte er, der als liberal galt, eine neue Karte auszuspielen: Seit Jahren schon sprach man von einer Verfassung. Damit, meinte man, wären alle Probleme gelöst. Ferner war die Rede von Wahlen und einem Parlament. Eine osmanische Verfassung kommt 1876 (nur für zwei Jahre) tatsächlich zustande. Auf diese Weise glaubte Abdülhamid, den nationalistischen Eifer auf dem Balkan zu brechen und die Rufe der Grossmächte nach Reformen zu befriedigen. Auch traute man ihm zu, eine Intervention der Grossmächte verhindern zu können. Diese Illusionen waren indes nur von kurzer Dauer. Im April 1877 erklärt Russland dem Osmanischen Reich den Krieg.
Die Absicht Russlands war, das Osmanische Reich zu zerschlagen. Russland sah sich – bis heute – als Schutzmacht der Slawen, insbesondere auf dem Balkan. Es gab eine beachtliche panslawische Bewegung, die auf die russische Führung grossen Einfluss ausübte. Nach wenigen Wochen war das Osmanische Reich besiegt. Russland hatte vor, das Reich aufzuspalten. Doch weder Frankreich, noch Grossbritannien, noch Österreich-Ungarn wollten zulassen, dass Russland sich allein die Beute einverleibte. Am 17. Juni 1878 traten die Grossmächte zum Berliner Kongress zusammen – mit den Osmanen als Beobachtern! Sie hatten nicht mitzureden.
Das grosse Schachern begann : Russland bekam den Kaukasus und erreichte die Schaffung eines neuen, christlichen Staates, Bulgarien. Offiziell gehörte Bulgarien zum Osmanischen Reich, doch in Wirklichkeit hatte dort Russland das Sagen. Rumänien, Montenegro und Serbien erhielten endgültig ihre Unabhängigkeit. Mit Bosnien bekam Österreich-Ungarn ein Gegengewicht zum russischen Einfluss auf dem Balkan. Das Osmanische Reich verliert nun mehr als 200.000 m2 auf europäischem Boden. Das bedeutete in der Praxis, viele Muslime verloren ihre Häuser, Millionen von Menschen wurden gewaltsam vertrieben. Die Krise von 1876-1878 war der Beginn des Flüchtlingszeitalters.
Weitreichende Reformen durch den Sultan und Öffnung des Reiches
Nach dem Russlandkrieg war es am Bosporus vorbei mit dem liberalen Image des Sultans, der die Verfassung aussetzt und allein als „aufgeklärter Despot“ regiert. Doch der Sultan will immer noch das Reich retten. Er will die orientalische Zivilisation, so sagt er, um die Errungenschaften des Westens ergänzen. Armee und Verwaltung, Justiz und Infrastrukturen werden modernisiert. Bildung rangiert weit vorn, überall entstehen Militärakademien, medizinische und juristische Fakultäten. 1888 fuhr der erste Orient-Express in drei Tagen von Paris nach Istanbul. Reisende strömen ins Land und mit ihnen westliche Moden und Einflüsse. In der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts war Istanbul eine moderne Traumstadt, erläutert ein Historiker. Abdülhamids Regentschaft bescherte Istanbul trotz seiner Autokratie eine „Belle Epoque“, im Zentrum das Hotel Pera Palace. Der Erfolg gab dem Sultan Recht.
Europäische Investitionen im Osmanischen Reich enden im Staatsbankrott
Auch die Europäer haben durch ihre wirtschaftlichen Investitionen ein Interesse am Fortbestand des Osmanischen Reiches. Vor allem Grossbritannien und Frankreich haben in Handel, Bergbau und in eine Eisenbahngesellschaft investiert wie auch in die Gründung einer osmanischen Reichsbank. Aufgrund von Verträgen aus dem 16. Jahrhundert haben alle Europäer beträchtliche Handelsvorteile wie z.B. Handels- und Steuerfreiheit. Sie geniessen Immunität und Extraterritorialität, fast schon koloniale Privilegien. Dem Sultan behagten diese Kapitalisten weniger, doch sein Handlungsspielraum war gering. Bei seinem Amtsantritt war der Staat bankrott, unfähig seine Schulden auf den französischen und britischen Märkten zu bedienen.
Wirtschaftliche Entmachtung des Reiches durch die Grossmächte
1881 beschneidet eine eigene Verwaltung für die Staatsschulden seine Macht. Dieses Konsortium hatte das Recht, seine Hand auf alle Staatseinnahmen zu legen, die nötig waren, um das Reich solvent zu halten und die Rückzahlung der Schulden zu gewährleisten. Mit anderen Worten praktisch ein Eingriff in die Steuerhoheit des Staates, was viel Groll und Verbitterung hervorrief. Denn es bedeutete letztendlich, dass der Orient nicht in der Lage erachtet wurde, sich ohne Anregung von aussen zu modernisieren. Das führte zu einem Minderwertigkeitskomplex, der heute noch in der Türkei spürbar sei, erklärt ein türkischer Historiker. Daraus entwickelte sich eine Mischung aus Liebe und Hass dem Westen gegenüber : Wir lieben den Westen, wollen so werden wie er, um unser eigenes Gesellschaftsmodell zu überwinden. Eine Hassliebe, die in der Türkei heute und ihren Beziehungen zu uns immer noch eine Rolle spielt.
Der europäische Imperialismus greift nach den Ländern des Osmanischen Reiches, auch Deutschland engagiert sich
Für lange Zeit bleiben Frankreich und Grossbritannien Garanten für die Stabilität des Osmanischen Reiches. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts ändern sich jedoch die Prioritäten. Der europäische Imperialismus erreicht seinen Höhepunkt, braucht neue Ressourcen und Märkte. Frankreich verleibt sich 1881 das osmanische Algerien ein. Ein Jahr später besetzt Grossbritannien Ägypten. Der Suez-Kanal bringt Grossbritannien wiederum Indien näher. „Wirtschaftlich zieht Grossbritannien mit den USA gleich auf, Deutschland wird als Handelsmacht enorm wichtig“, stellt ein Historiker fest, „wird eine der drei grossen Handelsmächte der Welt“.
In diese Zeit fällt auch das deutsche Engagement im Osmanischen Reich. 1889 reist Kaiser Wilhelm auf Staatsbesuch nach Istanbul und wird vom Sultan pompös empfangen. Die beiden Herrscher schmieden Pläne für eine neue Eisenbahnlinie von Berlin nach Bagdad und zum Persischen Golf mit seinen Ölfeldern: Vor die Tore des britischen Einflussgebietes. Später erklärt sich der deutsche Kaiser in Damaskus offiziell zum Freund und Beschützer der muslimischen Völker. Die osmanischen Völker sind hoch erfreut, Deutschland hat also kein Interesse am Zerfall des Osmanischen Reiches, sondern vielmehr an seiner Stabilisierung. Dies bedeutete zugleich eine Kriegserklärung an die alten Vormächte der Region, dass Deutschland sich dort engagieren würde.
Das Interessante dabei ist, dass Deutschland neu als Macht auftrat, die nie an der Ausbeutung der osmanischen Ressourcen beteiligt war oder in der Region eine Rolle gespielt hatte. Das mag auch die traditionelle Deutschfreundlichkeit der Syrer erklären. „Die Osmanen sind sehr bestrebt, dass sich die Entwicklung auf dem Balkan von Nationen, die sich über die Religion und Geschichte definierten, nicht in der arabischen Welt wiederholt“, lautet die Einschätzung des Historikers Eugene L. Rogan. Es galt zu verhindern, dass das Osmanische Reich auf die türkischen Gebiete reduziert würde. „Dem Sultan war jedoch klar, dass das Osmanische Reich den Balkan früher oder später verlieren könnte“, führt der Historiker Hamit Bozarslan aus, „womit ein Rückzug nach Kleinasien unvermeidlich wäre“.
Religiös-politische Neuausrichtung : Der Sultan als religiöser Führer sucht den Anschluss an die Heiligen Stätten und die Völker des Nahen Ostens
Seit dem 16. Jahrhundert, als Mekka und Medina von den Osmanen erobert wurde, war der Sultan zugleich Kalif, also spiritueller Führer des Reiches. Nun wollte der Sultan den Islam zum neuen Fundament seines Reiches machen. Das bedeutete, dass das Reich, dessen Bevölkerung zu ¾ muslimisch war, neu ausgerichtet wurde.
Im Jahre 1900 beginnt der Sultan den Bau der Hedschas-Bahn von Istanbul nach Mekka. Mit diesem Bau stellen sich die Osmanen als Hüter der Heiligen Stätten in Saudi Arabien dar. Das Osmanische Reich hatte seine Drähte überall hin, von Algerien bis nach Indonesien. Iran und Afghanistan standen bereits unter fremder Kontrolle. Die anderen Länder waren von Briten und Franzosen kolonisiert. Die Politik des Kalifen spielt sich im Inneren des Reiches ab, in Syrien, Mesopotamien, Palästina, Jemen. Die neue Eisenbahnlinie würde all diese Länder näher ans Zentrum des Imperiums rücken. Schulen und Akademien wurden dort eröffnet, lokale Eliten gefördert und in die Armee und Verwaltung eingegliedert. Obwohl in Beirut und Damaskus schon Forderungen nach Autonomie und kultureller Erneuerung laut werden, bleiben die arabischen Provinzen dem Reich treu. Sie kannten die Gefahren der Entwicklung in Nordafrika, die Besetzung Ägyptens durch die Briten 1882. In den arabischen Provinzen bleibt die osmanische Ordnung bestehen, gestützt durch die Illusion eines in seinen neuen Grenzen gefestigten, kohärenten Reiches.
Armenien
In Ostanatolien verfolgt eine christliche Minderheit nationale Bestrebungen, die Armenier. Über das osmanische, russische und persische Reich verstreut berufen sie sich auf eine gemeinsame Sprache, Religion und ihre alte Geschichte. Für die Osmanen ist dies eine Bedrohung aus „ihrem harten Kern“ ihres Reiches. 1894 bricht die (erste) Revolte von Sassun seitens armenischer Milizen aus. Als Vergeltung wird die armenische Bevölkerung massakriert, ein Vorgeschmack auf den Genozid von 1915. „Dieses Massaker stellte einen Bruch mit der Reichsgeschichte insgesamt dar“, erklärt ein Historiker, „nämlich dass die Bevölkerung ungestraft abgeschlachtet wird, gilt plötzlich als legitim“. In den Köpfen spukte eine ethnische Homogenisierung, es gab deutliche Anzeichen für 200.000 Opfer. Der Staat wollte das armenische Gedächtnis traumatisch prägen, um weiteren Revolten vorzubeugen. Europa ist empört, der Sultan wird als blutrünstiger Schlächter dargestellt. Doch die Regierungen schreiten nicht ein. Die Armenier werden ihrem Schicksal überlassen, obwohl sie unter dem Schutz Deutschlands stehen! Dabei war das letzte Wort für sie noch nicht gefallen.
Nationalisten geraten in Makedonien aneinander – Revolution der Jungtürken 1908
Auf dem Balkan bahnt sich 1903 der Zusammenbruch des Osmanischen Reiches an. In Makedonien geraten serbische, griechische und bulgarische Nationalisten vor dem Hintergrund innerchristlicher religiöser Zwistigkeiten aneinander. „Der griechische Nationalismus hatte expansionistische Bestrebungen in Richtung Makedonien“, erläutert eine griechische Historikerin, „und zwar aus historischen Gründen“. Serbische Nationalisten und lokale Bewegungen forderten nun ihren Teil von Nordmakedonien. Alle agierten, als gebe es das Osmanische Reich gar nicht (mehr). Es ging um die Frage, ob die orthodoxen Christen in Makedonien Griechen oder Bulgaren waren. Der Kampf dauerte Jahrzehnte, in Schulen, Kirchen und der Presse.
1905-1906 wurde daraus ein blutiger griechisch-bulgarischer Krieg. Es stellte sich die Frage, haben die Muslime auch eine nationale Identität? Antwort aus der osmanischen Armee : Am 3.7.1908 meutert in Thessaloniki eine Gruppe junger, muslimischer Offiziere aus dem Komitee für Einheit und Fortschritt, der grössten Opposition des Sultans. Und pochen auf türkische Identität. Gedemütigt durch die Niederlagen des osmanischen Heeres wollen sie dem absolutistisch regierenden Abdülhamid-Regime ein Ende bereiten und das Reich retten! Das sind die sogenannten Jungtürken. Innerhalb von drei Wochen setzen sie den Balkan in Brand. Der Sultan steht unter Druck und muss die liberale Verfassung von 1876 wieder in Kraft setzen. Ein nie dagewesenes Gefühl von Freiheit und Brüderlichkeit macht sich breit. Enver Pascha, einer der Revolutionsführer jubelt „Wir sind alle Brüder! Es gibt keine Bulgaren, Rumänen oder Juden mehr in unserem Reich, wir sind alle Osmanen!“ Die jungtürkischen Revolutionäre propagieren erhoffen sich nun endlich Reformen. Die Armenier ihrerseits beenden (fürs Erste) den bewaffneten Kampf. In den grossen Städten wurde gefeiert, was das Zeug hielt. Nach 30 Jahren Zensur (!) gewann die Presse wieder Oberwasser. Sie sagten sich, wir erhalten das Osmanische Reich und achten die Ansprüche der Nichtmuslime. Aber das türkische Element im Reich muss dominieren. Das Paradox aber war, dass die Jungtürken, angetreten, das Osmanische Reich zu retten, vielmehr alle Fliehkräfte im Reich beförderten!
Aus den patriotischen Jungtürken werden allmählich nationalistische Jungtürken. Die 100 Jahre zuvor in Griechenland ausgelöste Welle des Nationalismus ist so im Zentrum des türkischen Osmanischen Reiches angekommen. Es steht vor dem Aus.
Marionette Sultan – Auswirkungen der jungtürkischen Revolution auf den Balkan
In dem Chaos nach der Revolution von 1908 springt zunächst Bulgarien ab und erklärt sich für unabhängig. Österreich-Ungarn wiederum annektiert Bosnien-Herzegowina. Die Osmanen sind geschlagen. In Istanbul beginnt eine Gegenrevolution, mit Unterstützung des Sultans, argwöhnen die Jungtürken. Am 27.4.1909 wird Sultan Abdülhamid abgesetzt, Nachfolger wird sein jüngster Bruder, Mehmed V. De facto liegt die Regierung in den Händen der Revolutionäre. Sie versuchen, ein parlamentarisch-konstitutionelles System einzuführen, weitgehend erfolglos. 1911 unternimmt der Sultan eine Rundreise nach Makedonien, um den osmanischen Herrschaftsanspruch im seinem letzten Besitz neu zu beleben. Er wird im Kosovo bejubelt. Doch die Einigkeit ist eine Illusion. Jeder sah, dass den Osmanen die gesamte Region entglitt, selbst die muslimischen Albaner revoltieren, der „eiserne Gürtel der Nation“. Auch sie pochen auf ihre nationale Identität, basierend auf Sprache, Kultur und Glauben. Mitgeformt wird diese Identität durch die Glaubensgemeinschaft „Bektaschi“, die der Sultan nicht anerkennt. Ihren Forderungen begegnet er mit Gewalt. Im Kosovo gehen albanische Rebellen in den Untergrund, der Bruch ist besiegelt.
Besetzung Tripolitaniens durch Italien –1. Balkankrieg 1912
Der Balkan wartet nur auf ein Zeichen, um sich ganz gegen das Reich zu stellen: Italien hat das libysche Tripolitanien im Blick und geht 1911 in die Offensive. Die osmanische Armee leistet Widerstand, kann aber den italienischen Vormarsch nicht stoppen. Dieser Niederlage führt zum Sturz der jungtürkischen Regierung durch die Konservativen. Die Besetzung Libyens ermutigt Serbien, Montenegro, Griechenland und Bulgarien, sich unter russischer Patronage zum Balkan-Bund zusammenzuschliessen und dem Osmanischen Reich 1912 den Krieg zu erklären. Albanische Söldner schliessen sich ihnen an. Wir befinden uns nun bereits in der Vorgeschichte des 1. Weltkrieges. Die in Libyen geschwächte osmanische Armee wird aufgerieben. Thessaloniki, die Stadt der Revolutionäre von 1908, wird von den griechischen Streitkräften besetzt, eine Demütigung. Edirne geht an Bulgarien, eine weitere Demütigung.
Dementsprechend feindselig war die Haltung des Reiches gegenüber Bulgaren, Serben und Griechen, seinen Kerngebieten. Auch daraus entwickelte sich das Gefühl, Europa habe das Reich verraten. Dabei war der Balkan damals die modernste und offenste Region im Reich. Thessaloniki war die Hochburg der Moderne, moderner Istanbul, was sich 100 Jahre später niemand mehr vorstellen kann. Und all das ging 1912/13 verloren. Besonders der Fall von Thessaloniki wurde ein schweres Trauma.
- Balkankrieg 1913
Am 23.1.1913 putschen die Jungtürken unter Enver Pascha gegen die konservative Regierung wegen der Aufgabe von Edirne. Die Balkannationen hatten also das Osmanische Reich besiegt, nach 400 Jahren Fremdherrschaft. Doch was sollte aus dem osmanischen Makedonien werden, Zankapfel und Lunte des Krieges zugleich? Es gab Rivalitäten mit Bulgarien, das andere Interessen als Griechenland oder Serbien verfolgte. Alle waren gegen die Unabhängigkeitsbestrebungen der Albaner. Unter den Bündnispartnern kam es rasch zum Streit, der zwei Monate später in einen neuen Balkan-Krieg münden sollte. Kein Befreiungskrieg der Völker, sondern ein Krieg der Nationen. Braucht es noch eines weiteren Beweises dafür, wie brandgefährlich Nationalismus ist? Wenn die Menschen nur nicht so vergesslich wären… Jeder der Kontrahenten stand für sich und war bereit, alle anderen mit anderer Sprache oder Religion zu beseitigen. In jenen Jahren entstand der Begriff „Pulverfass Balkan“. Diese Balkankriege wurden mit ausserordentlicher Brutalität geführt. Ganze Dörfer wurden massakriert, es gab Vertreibungen, Massenvergewaltigungen. Mit allen Mitteln sollten die Gebiete „gesäubert“ werden! Mehr als 400.000 Menschen wurden zwangsumgesiedelt, meist Muslime. Dies war der Beginn des „ethnic cleansing“ der Neunziger Jahre in der Region. Schwache Staaten gingen gewaltsam gegen bestimmte Völkergruppen vor, durch eigene Soldaten oder üblicherweise paramilitärische Einheiten. Damit entstand eine Auslagerung der politischen Gewalt, um vor Ort neue Fakten zu schaffen. Die Zusammenarbeit des Staates mit Paramilitärs (oder auch Milizen) findet ihren Ursprung in den Balkankriegen. Dort wurde in vielerlei Hinsicht aufs Bitterste Geschichte geschrieben, mit Auswirkungen bis die jüngere Vergangenheit. Und fast wäre schon aus diesem Balkankrieg ein globaler geworden.
Ein Wort noch zu der Rolle der Grossmächte in den Balkankriegen: Sie waren froh, zumindest untereinander den Frieden gehalten zu haben. Denn man war sich der vom Balkan ausgehenden weitergehenden Kriegsfahr bewusst. „Die beiden Balkankriege waren geradezu Wegbereiter in den Ersten Weltkrieg“, wie Berthold Seewald in seinem lesenswerten Artikel „Der Krieg, der den Ersten Weltkrieg vorwegnahm“ in der Welt vom 7.8.2013 analysiert. „Das explosive Gemisch war schon vorhanden: Übersteigerter Nationalismus, überforderte Politiker, Gier nach Beute… Auf dem Balkan stiessen zwei zentrale Problematiken der internationalen Politik aufeinander: Die immer agressiveren Wünsche der Balkanstaaten nach nationalen Grenzen und die „orientalische Frage“, d.h. was mit dem untergehenden Osmanische Reich geschehen sollte.“ Er fährt fort, „Hinter jeder Nation stand eine Grossmacht, die mit dem kleineren Partner ihren Einfluss in der Region durchzusetzen versuchte“. Besonders hebt er ferner den Gedanken der Revanche hervor, der damals nachhaltig die internationalen Beziehungen prägte.
Epilog : Brennpunkt Kosovo, damals bis in die Gegenwart
1913 rufen die in einem Friedensvertrag festgelegten Grenzen erneut Konflikte hervor: ein unabhängiges Albanien wird geschaffen, in diffusen und umstrittenen Grenzen. Der Kosovo, Schauplatz des Aufstandes, wird Serbien zugesprochen. Die Serben sehen dies als eine Entschädigung für die demütigende Niederlage in der Schlacht auf dem Amselfeld gegen das Osmanische Reich 1389. Diese Schlacht war das Symbol der Herrschaft des osmanischen Reiches über den Balkan. Zum 600. Jahrestag 1989 beschwört Slobodan Milosevic einen neuen serbischen Nationalismus, Auftakt zu den Balkankriegen, die ex-Jugoslawien bald zerreissen sollten. Der letzte Balkankrieg des 20. Jahrhunderts findet 1998 im Kosovo statt. Ein Krieg, der das von Serbien beanspruchte Gebiet ein für allemal von Albanern säubern soll. 2003 ist das Kosovo der letzte der in Europa nach dem Zerfall Jugoslawiens neu geschaffene Staat.
1913 endete die Geschichte des Osmanischen Reiches zumindest in Europa. Die Konflikte brodelten weiter. Ein Jahr nach dem Ende des 2. Balkankrieges brach der 1. Weltkrieg aus, begonnen auf dem Balkan durch die Ermordung des österreichischen Thronfolgers in Sarajewo.
ARTE vom 22.3.2016 „Das Ende des Erhabenen Staates“ (I + II)
https://www.youtube.com/watch?v=oA_6o8WLWwM
http://www.bpb.de/internationales/europa/tuerkei/187977/osmanisches-reich-zerfall
http://programm.ard.de/TV/Programm/Sender/?sendung=2872419111826997
http://www.stern.de/politik/ausland/rueckblick-die-balkankriege-1991-1999-3286474.html
https://www.welt.de/geschichte/article118768990/Der-Krieg-der-den-Ersten-Weltkrieg-vorwegnahm.html
Ihr Essay enthält einige Ungenauigkeiten und geschichtliche Fehler.
“400 Jahre herrschte dort Stabilität, jedoch nur auf der Grundlage der Religion als Identität.” Unsinn, die strategische Lage des Bosporus, die Lage zwischen Europa und dem Orient und die Völkervielfalt bedeuteten nahezu fortwährende Spannungen und Kriege.
HG
Sehr geehrter Leser, ich basiere mich bei meinem Essay nur auf dem Film von ARTE.
Arte zählt noch zu den “Einäugigen unter den Blinden”, aber wir sehen nicht viel Sinndarin die Sendung unkritisch wieder zugeben. Die Lage im Balkan vor dem WK I. ist kritisch für die europäische Entwicklungen; wurde leider bis jetzt weiterhin der alliierten Sichtweise nachgeschrieben.