Juden & Muslime – So nah. Und doch so fern
Teil II – 721-1789 Miteinander leben
Hundert Jahre nach Mohammed, berichtete ARTE zuletzt im Sommer 2015, hat sich das muslimische Imperium über drei Kontinente ausgebreitet : Afrika, Asien und Europa. Diese Folge führt uns in die Blütezeit des Islams in Bagdad und ins maurische Spanien. In diesen Zeiten befruchten sich Judentum und Islam gegenseitig. Und der Islam verdankt dem älteren Judentum viel. Wir erleben die Kreuzzüge der Christen, die Vertreibung von Juden und Muslimen während der Inquisition, Aufstieg und Niedergang des Osmanischen Reiches. Der Schwerpunkt verlagert sich jetzt nach Europa, die Aufklärung öffnet den Geist.
Berber, Perser, Westgoten – der Omajjaden-Kalif herrschte seit der Mitte des 7. Jahrhunderts von Damaskus aus über eine Vielzahl von Völkern und Religionen. Der Islam war die offizielle Religion geworden, doch Juden und Christen genossen einen Sonderstatus: Sie waren dhimmis. Das bedeutete, es war die Pflicht der Muslime, sie zu beschützen im Gegenzug für die Bezahlung einer bestimmten Steuer und ihrer Anerkennung des Islam als vorherrschende Religion. Sie dürfen jedoch keine neuen Gotteshäuser bauen und müssen bestimmte Kleidung tragen, um als dhimmis erkenntlich zu sein. Ihre Kinder dürfen sie nicht den Koran lehren (was sie vermutlich auch nicht interessierte) und ihre Religion dürfen sie auch nicht offen zur Schau stellen. Sie hatten also einen niedrigeren Status, gegen Schutz.
Aufgeschlossenheit und Toleranz aller Völker unter den Abbasiden – Bagdad Zentrum der Wissenschaften
Unter den Omajjaden sind alle Staatsämter den kleinen Minderheiten vorbehalten. Dies gefällt nicht allen. Der Widerstand wächst und 747 versammelt Abu Al-Abbas al-Safar, Nachfahr von Mohammeds Onkel Abbas, Unzufriedene um sich herum. Sie stürzen das Omajjaden-Haus, die Herrscherfamilie wird gar ermordet! Al-Abbas wird nun der erste Kalif der folgenden Abbasiden-Dynastie, Bagdad die Hauptstadt des Reiches und ein Versuchslabor. Die Abbasiden führen einen neuen Regierungsstil ein : Sie setzen auf das Lernen von anderen Völkern, was zu einer Öffnung führt, auf die sie stolz sind! Die Rabbis verkehrten mit den Imamen, die Patriarchen mit den buddhistischen Führern, jeder wurde toleriert. Das Motto lautete „Möge das beste Argument gewinnen!“ Orte der Begegnung wurden geschaffen wie ein „Haus der Weisheit“, eine Art Universität. Dort wurden alle verfügbaren wissenschaftlichen Dokumente ins Arabische übersetzt, vor allem die Manuskripte der griechischen Antike, die christliche Mönche in Persien und Babylonien aufbewahrt hatten. Dies sollte der Beginn des goldenen Zeitalters für Juden, Christen und Muslime werden, das 400 Jahre währte! Bagdad war der Schmelztiegel, wo sich die Wissenschaftler trafen, die nie zuvor zusammengekommen waren : Mathematik, Astronomie und Philosophie. Und Arabisch war damals die Kultursprache, da dort bis ins 15. Jahrhundert nicht weniger als 95 % Juden lebten und Arabisch die Kultursprache des jüdischen Volkes war. Dazu muss man wissen, dass in dieser Zeit Wissenschaft und Religion untrennbar mit einander verbunden sind. Für die Abbasiden bekräftigen diese Fortschritte vor allem die Legitimation des Islams.
Gemeinsam machen Juden, Christen und Muslime atemberaubende wissenschaftliche Fortschritte : In Bagdad entsteht die erste Weltkarte, Algorithmen und Algebra, ein arabisches Wort, werden entwickelt, das erste stationäre Observatorium wird in Bagdad erbaut.
Neuauslegung des Korans nach griechischer Philosophie durch einen jüdischen Gelehrten
Die Kunde dieser wissenschaftlichen Leistungen dringt bis nach Europa. Gleichzeitig kommt eine neue Form der Auslegung des Korans auf, der Kalam, der auf der griechischen Philosophie basiert und erstaunlicherweise auch von den Juden übernommen wird. Im 10. Jahrhundert verfasst ein jüdischer Gelehrter, Saadia Gaon, eine Auslegung des Korans auf Arabisch, die auf diesen Methoden basiert. Dieser Text erneuert das jüdische Denken radikal, da er zum 1. Mal Philosophie mit Religion verbindet. Dieses Werk bildet bis heute eine der grundlegenden Schriften des Judentums.
Im Umgang mit dem Islam hatten die Juden Gelegenheit, die Philosophen der Antike kennenzulernen. Daraus entwickelte sich ein neues Judentum, nämlich das heutige. Keine andere Kultur hat das Judentum bis ins 19./20. Jahrhundert hinein so geprägt wie der Islam! Bis dahin stand der Islam unter der Herrschaft des Judentums. Nun führt unter der Herrschaft der Abbasiden der Islam zu einer Erneuerung des jüdischen Denkens!
Ausbreitung der geistigen Blüte Bagdads nach Al-Andalus, Isfahan, Kairo und Kairouan – „Convivencia“
Die geistige Blüte Bagdads breitet sich auch in die anderen grossen Städte des Kalifats aus : Kairo, Kairouan und Isfahan in Persien – bis hin in das muslimische Spanien. Im spanischen Cordoba hat der junge Omajjaden-Prinz von Al-Andalus, der einzige Überlebende des Angriffs durch die Abbasiden, ein Emirat und eine Dynastie gegründet. Die Omajjaden waren die Erzfeinde der Abbasiden, sie werden Cordoba zu einer prachtvollen Stadt machen, deren Pracht sich mit der Bagdads messen kann. Bagdad und Cordoba waren wissenschaftlich und kulturell rivalisierende Städte. Die jüdische Gemeinde in Cordoba erklärte nun ihre Unabhängigkeit von der jüdischen Gemeinde in Bagdad und brachte damit ihre Zugehörigkeit zur andalusischen Gesellschaft zum Ausdruck. Die gemeinsame andalusische Identität überdauerte sogar den Zerfall des Omajjaden-Reiches Anfang des 11. Jahrhunderts in ein Dutzend Fürstentümer. Juden, Christen und Muslime entwickeln ihre eigene Form des Zusammenlebens in ganz Andalusien, die sogenannte „convivencia“. In der Praxis kam es zu einer umfassenden Assimilation in Sprache, Kleidung, Musik und Nahrung. Dieses Prinzip des friedlichen Zusammenlebens zum Wohle aller ging sogar so weit, dass Rabbis, Führer der christlichen Gemeinden und schliesslich Imame über diese Entwicklung entsetzt waren!
Juden und Muslime teilten in Andalusien eine gemeinsame Kultur, eine sehr liberale Kultur in einer Zeit, da der Platz des Einzelnen üblicherweise von der Religionszugehörigkeit abhing. In Andalusien wurden die Regeln für die dhimmis erheblich gelockert und die Lage der Juden war besser denn je! Jüdische Ärzte und grosse, bedeutende Persönlichkeiten wurden beschrieben. Es gab eine interkulturelle Atmosphäre mit viel Austausch.
1027 – Der Jude Samuel Ibn Nagrela wird Grosswesir des Sultans und Militärführer in Granada
Im Jahre 1027 wird ein Jude namens Samuel Ibn Nagrela Grosswesir, eine Art Premierminister, des Sultans Habbus. Eigentlich sind den Juden politische Ämter verwehrt. Jahre später wird er sogar Armeeführer und General, der Muslime befehligte! Was er als dhimmi eigentlich nicht durfte. Manch einer war wenig erbaut darüber. Und er hatte sogar Erfolg! Nach dem Todes des Sultans hat Samuel jedoch einen schweren Stand: Er wird von den berühmtesten Gelehrten Andalusiens in einem Werk namentlich attackiert, obwohl er die Unterstützung anderer Muslime geniesst. Dieser Gelehrte führt die abwegigsten Argumente an und beschimpft ihn, um seinen hohen Ruf zu zerstören. Doch Samuel hält stand und mehrt sogar noch seine Macht durch das Vertrauen zweier Sultane.
Sein Sohn Josef, arrogant und weniger gewandt als er, sollte schon bald der Feindseligkeit der muslimischen Bevölkerung ausgesetzt sein. Am 30.12.1066 wird er ermordet, durch einen Propagandisten eines muslimischen Dichters, der seit Monaten gegen ihn hetzte. Und Mord reicht ihm nicht, praktisch die gesamte jüdische Bevölkerung von Granada wird niedergemetzelt: Ein Massaker von 4000 Toten. Alles durch die Manipulation der öffentlichen Meinung. Dies war bis ins 12./13. Jahrhundert hinein eine sehr seltene Episode einer Massenverfolgung von Juden und Nichtmuslimen, jedoch nicht zu verwechseln mit den Pogromen des 11. Jahrhunderts durch die Kreuzzügler. Es ging mehr um ethnische Rivalität als Hass auf Juden.
Gewaltsame Konversion der dhimmis zum Islam durch die marokkanische Almohaden-Dynastie
Mitte des 12. Jahrhunderts erobern die Almohaden, eine radikale Erneuerungsbewegung marokkanischer Bergbewohner, den Süden der iberischen Halbinsel, was die Lebensbedingungen für die Christen und Juden von heute auf morgen verändern sollte. Die Menschen hatten das Gefühl, ein neues messianisches Zeitalter war angebrochen. Das Gefühl einer gewaltigen Umwälzung kam auf. Dies bedeutete auch die Veränderung des Status der dhimmis, aber zum Schlechteren. Die Almohaden betrieben eine gewaltsame Konversion der dhimmis, ein klarer Verstoss gegen die muslimische Tradition. In der Folge konvertierten Tausende, Tausende flohen und viele wurden getötet.
In Andalusien Flucht oder Konversion – später Kreuzzüge nach Jerusalem als „Rache für Jesus“
Die Juden und Christen von Andalusien mussten sich entscheiden : Fliehen oder konvertieren. Die almohadischen Eroberer waren eine Katstrophe für die Juden. Aber auch für die Muslime in Andalusien, denen eine strenge Reform ihres Glaubens aufgezwungen wurde, die auch bei vielen Muslimen auf Ablehnung stiess.
Ein derartiger Fanatismus findet sich erste Jahrzehnte später auch im christlichen Europa, während der Kreuzzüge. Auch hier werden die Ungläubigen getötet, um die Ankunft des Gottesreiches zu beschleunigen. Neue religiöse Bewegungen in Deutschland, Frankreich und Grossbritannien kamen auf, die Menschen wurden zu einem militärischen Unternehmen aufgestachelt, zeitweilig genannt „Pilgerzug nach Jerusalem“.
Angekündigt und gepredigt hatte ihn Papst Urban II., der zur Rächung der Demütigung aufrief, die Jesus durch seinen Tod in Jerusalem erleiden musste. Jesus befände sich in den Händen von Heiden, Sarazenen. Für die Christen waren Muslime damals „Kinder des Satans“, noch nicht einmal Häretiker, für jede Rettung verloren! Die Juden wurden gehasst, weil sie angeblich Christus getötet hatten. Der Islam bedrohte die Christen, Muslime waren Feinde und zu vernichten, wo immer möglich!
1099 Stürmung von Jerusalem durch die Kreuzfahrer unter blutigen Gräueltaten an Juden und Muslimen
Nach dem Aufruf von Urban II. strömten die Pilger aus ganz Europa herbei, angeblich zur Befreiung Jerusalems. Wer dort sein Leben verliert, dem würden seine Sünden vergeben, sagte die Kirche. Auf dem Weg ins Heilige Land griffen Pilger Juden, die ebenfalls als Feinde der Christenheit betrachtet wurden, im Rheinland an. Manch Historiker betrachtet heute die gesamten Kreuzzüge als eine „Selbstdefinition“ , mit Hilfe derer Europa eine Art kollektive, christliche, europäische Identität entwickelte, gegen die Muslime und andere Religionsangehörige wie die Juden.
Am 15.7.1099 wird Jerusalem in einem grausamen Gemetzel erstürmt. Die Kreuzfahrer töteten Juden und Muslime, verbrannten sie bei lebendigem Leib, verbrannten Moscheen oder verwandelten sie in Pferdeställe! So gemeinsam angegriffen kämpfen Juden und Muslime wieder gegen einen gemeinsamen Feind.
Jerusalem, Hauptstadt des Kreuzfahrerstaates und drittheiligste Stadt des Islam
Nach dem ersten Kreuzzug wurden in Palästina und Syrien eine Reihe kleinerer Fürstentümer der Kreuzfahrer errichtet. Doch die muslimischen Nachbarn in der Türkei und im Süden, die Fatimiden in Ägypten, haben die Heilige Stadt noch nicht aufgegeben. Während der Zeiten der Kreuzzüge entstehen heilige Schriften der Muslime über den Wert eines Gebetes in Jerusalem. Ziel war es, die Frömmigkeit zu beleben und zu Pilgerfahrten aufzurufen. Mit anderen Worten, Jerusalem sollte als Heilige Stadt der Muslime propagiert und der Weg für eine Art Gegenkreuzzug bereitet werden, ein Dschihad zur Befreiung der Stadt. Nun erheben die religiösen Schriften Jerusalem zur 3. Heiligen Stadt des Islam.
Rückeroberung Jerusalems durch Saladin 1187, aber „kein Zwang im Glauben“ und keine Rache
Am 20. September Jahre 1187 belagern die Muslime Jerusalem unter der Führung des weisen und gefürchteten Feldherrn Saladin, am 2. Oktober erobert er die Stadt von den Christen zurück. Der Kreuzfahrerstaat Jerusalem sollte nur 88 Jahre währen. Saladin verschont die Bewohner der Stadt und lässt sie gegen ein Lösegeld ziehen. Saladin sagt, Jerusalem müsse wieder werden, was es war : eine Stadt für alle Religionen des Buches. Ergo keine Rachemorde, keine Zerstörung von Kirchen, wir werden nicht Gleiches mit Gleichem vergelten. Und die Juden erhalten Gelder für den Wiederaufbau der Synagogen. Als aufgeklärter Herrscher respektiert Saladin das Prinzip „kein Zwang im Glauben“, ganz anders als die intoleranten Almohaden in Andalusien, die dieses Prinzip abschafften.
Aus diesem Grund suchte auch der jüdische Philosoph Moses Maimonides, geboren in Cordoba, 1165 in Kairo Zuflucht vor den Almohaden. Dort durfte er seinen Glauben praktizieren und verfasste ein umfangreiches philosophisches Werk. Als junger Mann studierte er den Koran, es ist möglich, dass er in Andalusien zeitweilig gezwungen war, den Islam zu praktizieren. In all seinen Werken spürt man einen starken Einfluss muslimischen Denkens. Maimonides ist auch in der Geistesgeschichte des Westens sehr bekannt, da sich die christlichen Philosophen des 13. Jahrhunderts sich auf ihn, den „Moses Afrikas“, bezogen. Für die Philosophie von heute ist er nach wie vor eine Schlüsselfigur, nicht weniger als in der jüdischen Glaubenswelt, war sehr ungewöhnlich ist.
Reconquista in Spanien, Flucht der muslimischen Eliten, die Juden als Vermittler
In Spanien indes verliert der Islam an Boden. Stadt für Stadt erobern die christlichen Armeen der Katholischen Könige Al-Andalus mit seinen jüdischen und muslimischen Bewohnern zurück. Nach der „Reconquista“ ändern sich die Verhältnisse. Die muslimischen Eliten sind fort, ins Exil, auf sie kann man nicht mehr zählen. Daher sind es die Juden, die im 12./13. Jahrhundert eine wichtige Rolle spielen bei der Übersetzung griechischer Manuskripte und arabischer wissenschaftlicher Schriften und auch bei der (Finanz-) Verwaltung.
Immerhin gewähren die Spanier den Juden dieselben Privilegien wie als dhimmis. Nun werden die Juden aufgerufen zu vermitteln, um den Übergang zur Herrschaft der Christen zu gewährleisten. Die Spanier brauchen die Juden auch wegen ihrer genauen Kenntnis des Systems. In Aragon werden die Juden recht gut behandelt und in Toledo dürfen sie sogar neue Synagogen errichten.
Juden und Muslime Ketzer in Andalusien – Intoleranz durch die christlichen Herrscher im 14. Jhr.
Ende des 14. Jahrhunderts verschlechtert sich ihre Lage zusehends: Juden und Muslime gelten plötzlich als Ketzer und werden gezwungen zu konvertieren. Viele praktizieren ihren Glauben im Verborgenen weiter, werden Mauriscos genannt. Heute betrachtet man diese Zeit als den Moment des Aufkommens einer nationalen Staatsideologie. Kulturelle und religiöse Intoleranz werden immer grösser. Die kulturelle Identität der Juden und Muslime galt nun als unvereinbar mit dem katholischen Spanien, sie sollte daher ausgerottet werden. Den Muslimen wurden rituelle Bäder untersagt, Sauberkeit wurde zu einer muslimischen Tugend! Öffentliche Bäder wurden zerstört.
Inquisition und Vertreibung von Juden und Muslimen
Ab 1480 entstanden die ersten Inquisitionsgerichte in Spanien und Portugal, die Angst und Schrecken verbreiteten. Opfer waren vor allem zum Katholizismus konvertierte Juden, genannt Maranos „Schweine).
1492 befehlen Isabella la Catolica und Felipe von Aragon schliesslich die Vertreibung der Juden.
1526 werden auch die Muslime gezwungen, Spanien zu verlassen, gleichbedeutend mit dem endgültigen Ende von Al-Andalus und dem Geiste der Convivencia. Aus dieser Vertreibung ging letztendlich die Identität des modernen Europas hervor, die heute noch von vielen Menschen als christliche Identität verteidigt wird, weil sie angeblich Europa ausmache. Aber so war Europa früher nicht! So sollte es erst werden!
Flucht der Juden und Muslime von Al-Andalus nach Nordafrika, Griechenland und Konstantinopel
Fortan ist es Juden und Muslimen untersagt, sich in Spanien aufzuhalten. Im Exil werden sie zu Brüdern, die die Erinnerung an Al-Andalus wie einen Schatz hüten. Zuflucht finden die meisten Muslime und zahlreiche Juden in Nordafrika, bis hin zu Tunesien, Saloniki und Konstantinopel. Moslems und Juden in Nordafrika hatten oft mehr untereinander gemeinsam als mit der einheimischen Bevölkerung. Beide Gruppen litten unter demselben Heimweh.
Die spanischen Juden und Muslime integrieren sich in ihre neue Umgebung. Die Muslime werden innerhalb weniger Jahrzehnte fester Bestandteil der maghrebinischen Gesellschaft. Die spanischen Juden, Sepharden genannt, treffen in Nordafrika auf eine jüdische Gemeinde, die sich von der Verfolgung durch die (marokkanischen) Almohaden nie richtig erholt hat. Wegen ihrer höheren sozialen und kulturellen Stellung in der Gesellschaft geniessen die spanischen Juden ein gewisses soziales Ansehen und steigen in die Positionen wie die von Rabbis oder Richtern auf.
Aufnahme der spanischen Juden in Europa und im Osmanischen Reich und Modernisierung
Die jüdische Diaspora zieht auch nach London, Paris und Livorno, vor allem aber in das östliche Mittelmeer. Unter Sultan Suleiman ist das „Reich der Hohen Pforte“, das Osmanische Reich mit der Hauptstadt Konstantinopel, zur Vormacht des Mittelmeeres geworden. Das Osmanische Reich kann man sich als die USA des 16. Jahrhunderts vorstellen. In seiner Blütezeit war es ein sehr grosses Reich, das sich immer weiter ausdehnte und bereitwillig alle Menschen aufnahm, die über Ressourcen verfügten. Einige Juden waren nämlich sehr reich und gelehrt und wurden zu loyalen Untertanen.
Die Sultane nahmen also die Sepharden auf. Sie sagten, die Christen seien schon verrückt, vertreiben die gelehrtesten Leute aus ihren Königreichen! Bei uns sind sie sehr willkommen! Den jüdischen Ärzten und Lehrern ging es sehr gut im Osmanischen Reich! Die Osmanen nahmen die Juden auch deshalb mit offenen Armen auf, weil die Juden moderne Techniken und Verfahren aus Europa ins Land brachten und weil sich die Osmanen sicher sein konnten, dass sie als Vertriebene keine „Anwälte“ der Christen im Lande waren.
Saloniki, Konstantinopel: Die Sepharden arbeiteten als Fischer, Handwerker und Händler – und waren ausserdem dhimmis. Ein Bankier namens Joseph Nasi machte sogar Mitte des 16. Jahrhunderts am Hofe des Sultans eine steile Karriere, was auch in Europa Aufsehen erregte. In Grossbritannien inspiriert er Christopher Marlowe zu seinem Theaterstück „Der Jude von Malta“ mit Barabas, einem der ersten antisemitischen Typen, noch heute bekannt. Die Menschen glaubten, die Macht der Türken basierte auf dem Reichtum der Türken und die Juden wollten mit Hilfe der Türken ihre alten Rechnungen mit der Christenheit begleichen. Was zu den Eroberungszügen der Osmanen geführt habe, eine von den Juden angezettelte Intrige!
Niedergang des Osmanischen Reiches im 17. Jahrhundert, Opposition der Juden gegen die Muslime
Der Niedergang des Osmanischen Reiches ab Anfang des 17. Jahrhunderts stürzt viele Juden in Armut und führt zu Wirtschaftskrise und Entwurzelung. In jenen unsicheren Zeiten erwarten die Sepharden einen Messias, der die bestehende Ordnung zerstört und die Juden aus ihrer Knechtschaft befreit. Mitte des 17. Jahrhunderts kündigt in der Tat ein Jude aus Smyrna , Schabbtai Zvi, das nahe Ende an und ruft die Juden auf, sich in Jerusalem niederzulassen! Und findet auch beträchtliches Gehör! Er führte die grösste messianische Bewegung der Juden seit Jesus Christus an. Jeder wünschte sich damals einen Erlöser. Bald folgten ihm Tausende und Abertausende Anhänger, sein Zulauf reichte bis nach Polen, Grossbritannien und Marokko. Schabbtai prophezeite, er wolle das Reich Israel wiederherstellen und den Thron des osmanischen Sultans besteigen. Seine jüdischen Anhänger sagten den Muslimen, ihr seid am Ende! Sie planten nicht weniger als einen Umsturz. Worauf ihn der Sultan sofort ins Gefängnis steckte. Er sollte konvertieren oder sterben. Er konvertierte! Und mehr als 10.000 Juden mit ihm! Viele Konvertiten gingen nach Saloniki, das zur Hochburg der „Krypto-Juden“ wird.
Aufstieg des christlichen, intoleranten Europas – Beginn der Aufklärung – Französische Revolution
Während die gesamte muslimische Welt im Niedergang begriffen ist, wird das christliche Europa immer reicher und mächtiger. Hier sollte in Zukunft Geschichte geschrieben werden, auf diesem, von religiöser Intoleranz beherrschten Kontinent, wo die Lage der Juden weitaus prekärer war als in der islamischen Welt.
Lediglich in Frankreich wird unter der Leitung der Philosophen der Aufklärung ein neues Kapitel der Geschichte der Juden aufgeschlagen : Die Französische Revolution von 1789 verändert alles. Zum ersten Mal bekommen die Juden die vollen Bürgerrechte! Dies haben sie einem Priester namens Abbé Grégoire zu verdanken. Nach den französischen Juden erhalten alle europäischen Juden innerhalb weniger Jahre die gleichen Rechte wie die Christen. Was beträchtliche Folgen für die muslimische Welt haben sollte, wo die Juden immer noch dhimmis waren.
Der neue Gleichheitsgedanke wird alles auf den Kopf stellen.
http://www.arte.tv/guide/de/042498-000-A/juden-muslime-so-nah-und-doch-so-fern-2-4