SOS aus China
Zwangsarbeit in China? Ah, die Uiguiren?! In diesem Zusammenhang haben viele von uns schon von den Uiguren und ihrem Leid gehört oder gelesen. Doch Zwangsarbeit in China geht viel weiter, erfolgt in unzähligen fabrikähnlichen Gefängnissen, Millionen Menschen sind inhaftiert, auch Ausländer. Und wie viele Produkte, insbesondere Billigprodukte, bei uns sind davon betroffen?! Nach dieser Dokumentation kann man bei uns im Westen nicht mehr sorglos einkaufen, ohne sich Fragen zu stellen.
In einer ARTE-Dokumentation von 2023 wird ein in einem Schwangerschaftstest in Frankreich entdeckter Brief eines politischen Häftlings verfolgt, ein Hilferuf. Er berichtet von sklavereiähnlichen Verhältnissen. Die Filmemacherin Laetitia Moreau macht sich daraufhin auf die Suche nach dem Verfasser dieses Briefes und interviewt dafür ehemalige Häftlinge und recherchiert sogar in China. Der Preis für unseren billigen Konsum ist hoch, höher als es den meisten Konsumenten wohl bewusst ist. Straflager, sogenannte Laogai, gibt es in China seit Jahrzehnten, zur Umerziehung von Dissidenten unter Mao, nach dem Vorbild des sowjetischen Gulags. Inzwischen hat die chinesische Regierung in ihrem Bestreben um die wirtschaftliche Vormachtstellung in der Welt dieses System weiter ausgebaut und in den Gefängnissen des Landes praktisch die Sklaverei eingeführt. Die Unternehmen arbeiten mit Subunternehmern zusammen, die wiederum ihre Arbeit in Gefängnissen verrichten lassen, für chinesische, aber auch ausländische Kunden. Moreau gelingt es am Ende, den riesigen Gefängniskomplex in Tianjin ausfindig zu machen, aus dem der Hilferuf stammt und bringt die Frage der Zwangsarbeit bis vor das Europaparlament.
Am Anfang steht der in den Test geschmuggelte Brief eines chinesischen Häftlings aus Tianjin, 2015 in Paris entdeckt. Dieser beschreibt darin seinen Alltag bestehend aus 12-15 Std. Arbeit, Hunger, nicht mehr als 5-6 Std Schlaf und, wenn er nicht mehr kann, Schlägen und mehr. Das Gefängnis erwirtschaftet sich von seiner Zwangsarbeit Gewinn, die Polizei arbeitet mit der Gefängnisleitung zusammen, um Gewalt zu unterbinden. Der Häftling hat den Brief nicht unterschrieben, sonst wäre er in Lebensgefahr. Er endet mit den Worten „Bitte helft mir!“
Recherchen in Rumänien
Die Filmemacherin macht sich also auf den Weg nach Rumänien zu einem ehemaligen Häftling, einem Englischlehrer in China, der dort von 2014 – 2022 inhaftiert war. Marius Balo, der seit seiner Freilassung für seine Mithäftlinge in China kämpft, war dort unter unmenschlichen Verhältnissen inhaftiert. Gleich bei seiner Ankunft im Gefängnis erklärte ihm die Polizei : „Von nun an sind Sie kein Mensch mehr!“ Das sagt alles. Inhaftiert war Marius wegen angeblicher betrügerischer Geschäfts-praktiken, die er stets bestritten hat. Wie geht China mit Gefangenen um, Marius? „Sie sind Zwangsarbeit unterworfen, Opfer von Folter und Morden, jeden Tag! China ist NICHT wie wir!“
Erfahrungsberichte aus Grossbritannien
Ein weiterer Zeuge, Peter Humphrey, der Marius bei seinen weiteren Ermittlungen begleitet, war mit ihm zusammen inhaftiert. Peter arbeitete im Auftrag westlicher Unternehmen in China und sollte vor Ort die Zuverlässigkeit seiner Geschäftspartner sorgfältig prüfen, ein gefährliches Unterfangen… Im Zuge seiner Arbeit interessierte er sich zu sehr für ein Mitglied der KP, worauf Peter und auch seine Frau verhaftet wurden. Ihm wurde der Prozess gemacht, der sogar im Fernsehen übertragen wurde, beide bekamen zwei Jahre Haft. 2015 wurden sie entlassen. Er berichtet, wie er bei der Ankunft nachts um 3 Uhr in eine Zelle mit 12 Häftlingen geworfen wurde, die hell erleuchtet war, ein Schock. Das Trauma verfolge ihn bis heute, es war der absolute Horror. Bei der Festnahme wurde er gedemütigt, musste vor dem Personal auf die Knie fallen. Die Haftbedingungen seien unmenschlich, die meisten Gefangenen übrigens unschuldig, trotzdem müssen sie ein Geständnis ablegen. In der Stadt Tianjin allein gebe es 10-12 Gefängnisse! Vielleicht war es das Stadtgefängnis. In China gebe es Millionen Gefangene und nicht einer bekäme einen fairen Prozess! Sie würden misshandelt und zur Arbeit gezwungen, das Gefängnispersonal bereichere sich, es gebe grobe Menschenrechtsverletzungen. Er sah Produkte von H&M, C&A, 3M, Zara, Quaker Oats.
Die nächste Spur führt uns nach Grossbritannien. Im Jahre 2019 findet ein kleines Mädchen dort eine Botschaft in einer Weihnachtskarte der Kette Tesco, geschrieben in dem Gefängnis, in dem Peter inhaftiert war, an ihn, Peter, adressiert! Dort stand „Wir ausländischen Gefangenen werden zur Arbeit gezwungen! Bitte kontaktiert Peter Humphrey!“ Wie viele Menschen haben wohl solche Botschaften bekommen und sie einfach weggeworfen?! Peter hat weitere ex-Gefangene ausfindig gemacht und will herausfinden, was sie produziert haben. Zwei Gefangene schrieben insgesamt 10 Karten in zehn verschiedenen Verpackungen!
Tianjin liegt im Nordosten Chinas, 130 km von Peking, 13 Millionen Einwohner, die Stadt ist bekannt für ihre Pharmaindustrie und ihren riesigen Hafen für weltweiten Handel. In Tianjin sollen sich 11 der offiziell insg. 2600 chinesischen Gefängnisse befinden, viele Haftanstalten werden geheim gehalten. Journalisten von ARTE sind nach Tianjin gereist auf der Suche nach dem Stadtgefängnis. Sie entdeckten nur eine „Gedenktafel“ dafür, es existiert nicht mehr, es wurde an einen anderen Ort verlegt. Aber wohin?!
Wie mag das fragliche Gefängnis aussehen?
Mit Hilfe von Satellitenfotos erkennt Marius die Umrisse einer Anlage und berichtet weiter, was er gesehen und erlebt hat: Lkws fuhren rein und raus, manchmal standen sie sogar Schlange. Die meisten Produkte waren für westliche Unternehmen bestimmt (deshalb die Hafenstadt…). Seine Arbeitsbedingungen waren hart, aber nicht ganz so schlimm wie für die Chinesen. Jeden Morgen mussten sie sich um 6.30 auf dem Hof aufreihen und auf Befehl zur Arbeit marschieren. Am Ende der Schlange marschierten immer die schwachen Menschen, aber niemand durfte in seiner Zelle bleiben oder sich ausruhen! Im Gefängnis wurde man an die Grenzen seiner Existenz gebracht, erinnert er sich, bis an den Rand des Wahnsinns! Jeden Tag am Rande des Wahnsinns! Wie lange können wir diese Zeugenaussagen noch ignorieren?!
Die Botschaften berichten von Arbeitslagern, China hat in den Fünfziger Jahren das sowjetische Gefängnissystem der Gulags übernommen, genannt Laogais. Deren Zweck war unter Mao Umerziehung durch Arbeit, seit Beginn der Volksrepublik. Die Ziele waren Gehirnwäsche und Zwangsarbeit. Es sollten all diejenigen unschädlich gemacht werden, die das Regime störten. Durch Sklavenarbeit in Bergwerken, Steinbrüchen oder in der Landwirtschaft verloren Millionen von Männern und Frauen ihr Leben. 70 Jahre später sind die Autoren der Briefe Beweis dafür, dass diese Lager noch immer existieren! Obwohl sie offiziell 2003 abgeschafft wurden.
Was hat es mit dem Laogai-System auf sich?
Eine Demonstration von Chinesen in London: Sie brüllen „Nieder mit der kommunistischen Partei, Freiheit für alle politischen Gefangenen!“ In den USA gibt es die Laogai Research Foundation, eine NGO, die das Laogai-System bekämpft. Wir sehen eine Gedenkfeier für den Dissidenten Liu Xiaobo anlässlich des Tianamen-Aufstands von 1989 und für die chinesische Bürgerrechtsbewegung. 2009 wurde er zu 11 Jahren Einzelhaft verurteilt, erhielt 2010 den Friedensnobelpreis. Ohne Zugang zu medizinischer Versorgung starb er 2017 an Krebs. Tien Chi Lao sammelte Aussagen von ehemaligen Häftlingen und veröffentlichte sie. In zehn Jahren Arbeit brachte sie 30 Bücher heraus und zahlreiche Berichte. Sie weiss, dass Gefangene bei Fehlern geschlagen und gedemütigt werden und auch getasert, wenn sie nicht hart arbeiten. Sie hält den Bericht für realistisch, was die Elektroschlagstöcke betrifft. Manchmal, wenn Aufseher wütend werden, steckten sie sie den Gefangenen in den Mund, und die verlieren daraufhin alle Zähne!
Ein Kontaktmann in Thailand
In Bangkok, Thailand, kontaktiert Marius einen ehemaligen Mithäftling aus Rumänien, der sich Dima nennt und anonym bleiben will. Dima hat eine kriminelle Vergangenheit und wurde 2019 in Shanghai wegen Kreditkartendiebstahls verhaftet. Er wurde zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt, und zwar in demselben wie Marius und Peter! Er verweigerte dort die Zwangsarbeit, was er teuer bezahlt hat! Als Strafe erhielt er 80 Tage Einzelhaft, andere Häftlinge müssen sogar jahrelang in Einzelhaft vegetieren, weil sie sich weigern zu arbeiten. Er berichtet, dass jede Zelle 3×6 Schritte messe, es gebe keine Fenster, nur eine Tür mit Gitterstäben. Spezielle Foltertechniken bestünden darin, drei Tage auf einem Tisch festgeschnallt zu werden, wie ihm geschehen. Er hatte obendrein das Essen verweigert, und zwar weil er nicht auf die Toilette durfte. Daraufhin fütterte man ihn! Was machen sie erst mit chinesischen Gefangenen?! Sie treiben einen an die Grenzen, psychologisch, immer und immer wieder. Marius fügt hinzu, dass in China die Gefangenen jedesmal beim Hinausgehen an Händen und Füssen gefesselt werden, z.B. auf dem Weg zum Gericht oder Konsulat. Dabei seien Hände und Füsse mit einer Kette verbunden, so könne der Gefangene nur kleine Schritte machen. Dies sei in China jeden Tag Realität!
Wirtschaftssystem Gefängnis
In Bangkok treffen Marius und die Filmemacherin auch einen europäischen Geschäftsmann, der 2011 wegen Handelsbetrugs verurteilt wurde und acht Jahre in chinesischen Gefängnisse verbrachte, auch er will lieber anonym bleiben. Sie legen ihm den geschmuggelten Brief vor. Er stellt fest, dass in China die meisten Menschen gegen das System sind, auch die Reichen! Aber sie hätten Angst, das zu sagen. Die Familien der ausländischen Gefangenen würden gezwungen, Geld für Güter des täglichen Bedarfs zu schicken, die völlig überteuert seien. Auf diese Art könnten die Gefängnisse noch mehr Geld einnehmen. Man müsse sich vor Augen halten, in diesen Gefängnissen würden Millionengeschäfte gemacht! Wenn der Unbekannte mit Namen unterschrieben hätte, wäre er erledigt. Die Polizei bedrohe auch Familien und Kinder.
Die Produktionskette im Gefängnis sehe aus seiner Erfahrung wie folgt aus: Nie ein gesamtes Produkt herstellen. Am längsten sassen sie an den Etiquetten für Kleidungsstücke (C&A). Es gebe ein System aus Scheinfirmen mit einem Hauptunternehmer, dessen Agent die Verbindung zwischen dem Gefängnis, den Unternehmen vor Ort und dem Ausland herstellt. Der Schwangerschaftstest Serenity-Test, in dessen Schachtel der geschmuggelte Brief gefunden wurde, der billigste, ist in 30 Ländern weltweit und 9000 Apotheken in Frankreich verbreitet. Der Firmenname lautet BCT, diese Firma vertreibt alle Arten von Tests, auch Coronatests. Die offizielle Adresse von BCT ist Shenzhen. Im Brief spricht der Unbekannte aber von Tianjen, was mehr als 2000 km auseinander liegt. Auf dem Website von BCT wird als Schirmherr der ehemalige Gesundheitsminister aufgeführt, der in den Achtziger Jahren die Ein-Kind-Politik in China eingeführt und dafür gesorgt hat, dass Millionen von Frauen sterilisiert und zur Abtreibung gezwungen wurden. Er ist vor 10 Jahren gestorben. Welch ein Vorbild!
Die Frau, die zuviel wusste
In London treffen die beiden Männer Desmond Shum, chinesischen Geschäftsmann im Exil. Desmond erläutert das wirtschaftliche System hinter der Zwangsarbeit : In China existiere ein Unternehmen nur durch das Wohlwollen der Politik. Geld spiele keine Rolle, alles hänge von der politischen Macht ab. Desmond ist in Shanghai geboren, wuchs in Hongkong auf, studierte in den USA und arbeitete in Peking 20 Jahre lang in einer Investmentfirma und im Immobilienbereich. Er kannte die Familie von ex-Ministerpräsident Wen Jiabao, dieser war einer ihrer Geschäftspartner. Auf diese Weise kamen Shum und Frau in den Jahren 2003-2013 zu Geld, in 10 Jahren wurden sie Milliardäre. Nur wer Geld und Macht hat, kann überleben, schrieben sie aus dem Gefängnis. Das Ehepaar hatte Geld, aber keine Macht. 2012 enthüllte die New York Times das Vermögen von Wen Jiabao. Daraufhin verschwand seine Frau, sie wusste zu viel, sie wurde von der Strasse entführt, die Familie wurde nie kontaktiert. Niemand wisse, ob sie noch lebt! Das sei Teil der neuen Strategie: Die Übernahme der chinesischen Wirtschaft durch die kommunistische Partei, Xi Jinping ist dem Privatsektor gegenüber weniger wohlgesonnen als sein Vorgänger, er sehe ihn als potentielle Gegenmacht (wohl zu Recht). Unter dem Vorwand der Korruptionsbekämpfung häufen sich Inhaftierungen und das Verschwinden chinesischer Unternehmer. Auch Westler würden nicht verschont. Xi Jinping breche mit der Politik seines Vorgängers Deng und seiner in den Achtzigern eingeführten Wirtschaftspolitik, die dem Land zweistellige Wachstumsraten eingebracht hat und dem Ehepaar Shum Reichtum. Lange hätten viele Chinesen versucht, reich zu werden, auch heute noch. Manche seien eng mit dem chinesischen Gefängnissystem verbunden und profitierten davon.
Geld verdienen durch Arbeit im Gefängnis, das sei das neue Konzept der Laogai aus den Achtzigern, nicht mehr die Umerziehung der Insassen. Diese Entwicklung sei Hand in Hand mit der Umstellung der chinesischen Wirtschaft hin zum Kapitalismus gelaufen. Die Gefängnisse würden dabei zu lukrativen Unternehmen. Sie erwirtschaften Profite für das Personal und die Partei, es gebe immer mehr Produkte. Die Laogai produzierten jetzt auch für ausländische Kunden, obwohl dies in China gesetzlich verboten sei! Sie arbeiteten für den Export, das System existiere bis heute. Jedes Gefängnis in China würde wie ein Unternehmen geführt, laut Peter Humphrey, die Gefangenen würden gezwungen, Produkte zu produzieren, die den Gefängnissen hohe Gewinne einbringen, das gesamte chinesische Gefängnissystem funktioniere so. Das gesamte…
Ein Laogai-Zeuge in New York
New York : Laogai-Überlebende findet man auf der ganzen Welt. Chen Pokong, Wirtschaftsprofessor, ist 1993 in die USA geflohen und enthüllte als erste die Arbeit der Laogai für ausländische Unter-nehmen. Als Anführer der Demokratiebewegung in Shanghai kam er ins Gefängnis und schrieb von dort einen Hilferuf. Dank einer NGO gelangte seine Botschaft in die USA. „Wir mussten künstliche Blumen herstellen“, erzählt er. „Viele Menschen unterstützten mich, auch Nancy Pelosi von den US-Demokraten im Kongress. Sie hat sich immer für die Menschenrechte in China eingesetzt“: Im US-Kongress spricht sie von 14 Std. Arbeit in Steinbrüchen und danach noch nachts Kunstblumen herstellen, wie er. Wenn Häftlinge nicht die Quoten erfüllten, würden sie blutig geschlagen. Chen Pokong überlebte. Manche Insassen wurden zu Tode geprügelt. Das macht ihn wütend. Die Öffentlichkeit muss erfahren, was sie dafür zu erleiden hatten.
„Made in China“ von Amelia Pang
2019 veröffentlichte Amelia Pang ein Buch über Zwangsarbeit in China mit dem Titel „Made in China“. Nun reist sie zu Recherchezwecken nach Shanghai, gibt sich als Geschäftsfrau aus und nimmt Kontakt mit mehreren Gefängnissen auf. Sie stellt sich als Einkäuferin eines grossen, internationalen Vertriebs vor und wird gleich empfangen. Sie würden alle möglichen Produkte verkaufen, sagt man ihr: Weihnachtsblumen, Grusskarten etc. Es ist sehr einfach, Subaufträge an solche Arbeitslager zu vergeben, erklärt Amelia. Sie wollte wissen, ob diese Firmen/Gefängnisse noch immer den US-Markt belieferten und ob dies auch noch der Fall ist, wenn sie ihren Namen ändern. Die Öffentlichkeit muss mehr Informationen über diese Firmen bekommen, um zu festzustellen, welche westlichen Unter-nehmen mit diesen Lagern zusammenarbeiten. Es gebe keine verlässlichen Zahlen, auch nicht von China. Ihrer Erfahrung nach sind die meisten Häftlinge politische oder religiöse Häftlinge, Demokra-tieaktivisten oder Menschenrechtsanwälte, manchmal auch Kleinkriminelle. Sie würden inhaftiert, weil die Lager Arbeitskräfte brauchen! So einfach sei das.
Das Chingpu-Gefängnis in Shanghai ist ein riesiger Komplex, geführt unter verschiedenen Namen: Gefängnis, Entzugszentrum etc. Die meisten Gefängnisse arbeiten für multinationale Lieferanten, obwohl das verboten sei. Amelia folgte Lkws vor Ort, um herauszufinden, mit welchen Lieferanten sie zusammenarbeiten, obwohl das gefährlich ist. Sie sei erstaunt, wie viele unterschiedliche Produkte dort hergestellt würden: Alles von künstlichen Blumen bis zu Pharmaprodukten. Sie fand ebenfalls heraus, dass die Gefangenen für grosse internationale Marken arbeiten wie Apple, Amazon. Diese könnten bestimmt solche Kontakte herstellen.
Die Suche nach dem Autor des Hilferufs geht weiter. Amelia interviewt Chen Pokong, zeigt ihm den Hilferuf versteckt im Schwangerschaftstest. Er entnimmt ihm, dass der Schreiber studiert sein muss, s.E. ein politischer Gefangener, wahrscheinlich ein Mann, evtl. eine Frau. Der Brief sei erschütternd! Vor 30 Jahren sei er im Gefängnis gewesen und noch immer habe er Albträume. Früher dachte er, dass sich die Demokratie in China irgendwann durchsetzen würde, aber das war naiv. Bei der Lektüre dieses Briefes würde ihm klar, dass die Chinesen noch mehr leiden als er damals. Seit Bestehen der Laogais hätten es nur drei solche Briefe in die Medien geschafft.
Ein weiterer Hilferuf aus Rom
In Rom arbeitet Flavio Lavero als Expresskurier für eine Firma. Während der Corona-Zeit kam er einmal ins Büro mit einer Maske, er hatte in der Apotheke eine 20-er Packung Masken gekauft. In einer Maske fand er eines Tages ein kleines Papier, beschrieben mit den Worten: „Nicht verwenden, gehen Sie zu einer internationalen Organisation, God bless you“! Wie eine Flaschenpost!
Masken, Handschuhe, Kittel, alles Produkte, die während der Pandemie unverzichtbar waren. Peter hat früher in seinem Job viele medizinische Produkte untersucht, das sei eine sehr korrupte, schmutzige Branche. Ihm war sofort klar gewesen, dass sich diese Produkte dazu eignen, im Gefängnis verpackt zu werden.
Das Stadtgefängnis von Tienjin
Die Puzzleteile fügen sich zusammen, das Stadtgefängnis von Tienjin, Hygieneprodukte im Gefängnis verpackt und der Brief des Unbekannten. Amelia schickt den Brief an einen politischen Gefangenen aus Tienjin, der kürzlich entlassen wurde und weiter in China lebt, sehr mutig. So bekommen wir weitere Einblicke in das Häftlingsleben. Der Brief erwecke den Eindruck, der Autor lebe in der letzten Kette der Pharmaindustrie. In Tienjin gebe es viele solche Fabriken. In seinem Gefängnis mussten sie Einweghandschuhe verpacken, für den Export nach Europa. Diese vermeintlich einfachen Arbeiten seien in Wirklichkeit äusserst mühsam, findet er. Der Gefangene, der so ein Gefängnis betritt, werde zu einer Art Roboter, müsse wie eine Maschine arbeiten, jeden Tag, von morgens bis abends, fast pausenlos.
Firma BTC Systems und Firma Recare – ein und dieselbe?
Die Filmemacherin sieht sich den Website eines chinesischen Grosshändlers an: Dort stellt sie Verbindungen zwischen der Firma BTC Systems in Shenzhen und Tianjin und der Firma Recare fest. Auch der Serenity-Test wird vorgestellt, er nutzt Patente von BTC. Preis 0,24 US$! In vielen Videos verspricht die Fa. Recare unschlagbare Preise und Lieferzeiten. Vor Ort an der Adresse finden sich indes weder Schild noch Logo, es ist ein Wohngebiet, dort gibt es bestenfalls Büros, keine Produktions-stätten, ein weiterer Hinweis auf ein Laogai.
Das Drama der Uiguren in China ist im Westen wohl bekannt. Es gibt nicht wenige Hinweise auf Umerziehungslager, Folter, Zwangsabtreibungen und Sterilisationen, Arbeiten auf Baumwollfeldern als billige Arbeitskräfte und in chinesischen Textilfabriken, Millionen von Männern und Frauen sind betroffen. Dabei geht es nicht nur um Zwangsarbeit, sondern das Regime versucht auch, ihre ethnische Identität auszulöschen. Doch die Zwangsarbeit in China geht weit darüber hinaus.
Die „Liste der Schande“ von Australian Strategic Politic Institute und die Uiguren
Im Jahre 2020 veröffentlichte die NGO Australian Strategic Politic Institute einen Bericht und eine Liste der internationalen Marken mit einem oder mehreren Zulieferern, die mit Zwangsarbeit von Uiguren zu tun haben, bekannt als „Liste der Schande“ (z.B. Lacoste, M. Benz, Microsoft, Siemens, Sharp, Sony, Volkswagen, Xiami, Zara, Landrover, Lenovo etc.) In den zwei Jahren danach erkennen Frankreich, die Niederlande, die USA, Kanada und Grossbritannien den Völkermord an den Uiguren an. So entstand im Westen ein Bewusstsein für diese Problematik und viele Unternehmen waren gezwungen, sie ernster zu nehmen also noch vor 5 Jahren, erläutert Peter Humphrey.
Was unternimmt Europa?
Der nächste Schritt ist in die Politik, die europäische, um Zwangsarbeit in China anzugehen. Im Europarlament in Strassburg kritisiert der Europaabgeordnete der Fraktion Die Grünen/EFA, Reinhold Bütikofer, die Handelsbeziehungen der EU mit China seien voller Widersprüche, das EP setze sich für die Uiguren ein, doch die EU-Kommission wolle das Investitionsabkommen mit China wieder in Gang bringen. Das sei ein doppeltes Spiel! In den EU-China-Beziehungen spiele Gier eine Rolle, genauso wie damals bei der Welthandelsorganisation WTO, als es um die Aufnahme Chinas in die Organisation ging (2001). Der Wunsch, den chinesischen Markt zu erobern und von den billigen Arbeitskräften zu profitieren, war stärker. Die Abschaffung der Zwangsarbeit war nie eine Bedingung für den Beitritt zur WTO. Ziel war, den Handel als Hebel für positive Veränderungen zu nutzen, erläutert er. Je mehr, desto besser, zur Verbesserung der Menschenrechte – doch dieser Ansatz sei gescheitert. Beweis dafür sei die hegemoniale, imperialistische und revisionistische Politik von Xi Jinping. Es reiche nicht aus, nur die Behandlung der Uiguren oder Tibeter zu kritisieren, sondern das ganze System, das auf der Missachtung der grundlegenden Menschenrechte beruht.
Den Handel mit China wieder ethisch zu gestalten, das versuchen die USA seit 2021, obwohl sich beide Länder in einen offenen Handelskrieg befinden. Ein Gesetz aus dem US-Kongress soll verhindern, dass Produkte aus Xinjiang nach Nordamerika gelangen. Seit der Verabschiedung dieses Gesetzes muss nachgewiesen werden, dass Produkte aus Xinjiang nicht durch Zwangsarbeit hergestellt werden. Kontrollen des US-Zolls sowie Sanktionen werden verschärft. Die chinesischen Exporte in die USA sind bereits zurückgegangen, die nach Europa hingegen sind gestiegen! Europa ist nun Chinas grösster Handelspartner, noch vor den USA.
Abstimmung im Europaparlament
Im Europaparlament in Strassburg hat sich der Abgeordnete Raffael Glucksmann als einer der ersten für die Rechte der Uiguren stark gemacht. Er arbeitet an einem Gesetz nach dem Vorbild der USA für alle Produkte aus Zwangsarbeit. Nach Lektüre des Hilferufes schlägt er vor: Sobald so ein Brief auftaucht, müssten alle Behörden sowie der Zoll informiert und das Produkt verboten bzw. beschlagnahmt werden. Das kommunistische System China müsse für sein Verhalten bezahlen!
Sie beschliessen, dass Marius Balo und Peter Humphrey die Stimme des Unbekannten im Plenum des Europaparlaments sein sollen. Derzeit wurden zwei Gesetzestexte initiiert, einer über die Sorgfaltspflicht von Unternehmen, die Produktionsbedingungen ihrer Subunternehmer zu kontrollieren sowie ein weiterer über das Verbot von Produkten aus Zwangsarbeit. Marius bringt weitere Produkte mit, die er dort hergestellt hat, z.B. Geschenkpapiertüten. Peter erinnert noch einmal daran, dass das chinesische Gefängnissystem sich von den Gefangenen ernährt, es würde alles getan, um sie solange wie möglich zu behalten (sprich: auszubeuten) und ansonsten so schnell wie möglich Ersatz zu bekommen. In China träfen der sowjetische Gulag und der Ultrakapitalismus aufeinander. Glucksmann arbeitet ebenfalls an einem Verbot für die Einfuhr von Produkten aus Zwangsarbeit, nach US-Vorbild. „Wir wollen Druck auf die chinesische Regierung ausüben, China wird viel verlieren, wenn es nicht nach Europa exportieren kann! Sie sollen einmal über die Kosten und den Nutzen ihres Systems nachdenken. Unsere Menschenrechte sind ihnen egal. Aber wir müssen auch auf die westlichen Unternehmen einwirken, die viele Geschäfte mit China machen“, betont Glucksmann.
Wo liegt nun das Gefängnis des Unbekannten?
Seit Monaten schon ist die Journalistin auf der Suche nach dem Gefängnis des Unbekannten. Mit Hilfe eines Abgleichs von Informationen aus den sozialen Medien mit Satellitendaten gelingt es ihr schliesslich, es ausfindig zu machen! Es ist ein Schock: Es handelt sich um einen riesigen Gefängnis-komplex aus mindestens drei Gefängnissen! Offiziell sind ihm fünf staatliche Unternehmen ange-schlossen. Teilweise ist der Komplex von Wasser umgeben, wie eine Festung. Es gibt kein Entkommen. Sie zeigt Peter das Satellitenbild, der es analysiert. In einem Gefängnis könnten Tausende Häftlinge eingesperrt sein. Zum ersten Mal erblickt er den Gesamtkomplex, der so viele Gefängnisse in sich vereint. Das chinesische Strafvollzugssystem sei in den letzten Jahren exponentiell gewachsen! Eines der ersten Dinge, die Xi Jinping bei seinem Machtantritt sagte, war „Baut mehr Gefängnisse“. Das wurde getan. Wer weiss das schon bei uns? Und die Sicherheitsmassnahmen wurden verstärkt, die Gefängnisse wurden grösser, die wirtschaftlichen Aktivitäten und Gewinne aus den Gefängnissen stiegen ebenso exponentiell, erklärt er, der ehemalige Wirtschaftsermittler.
Wechsel nach China : Vor Ort fahren Journalisten zu dem Gefängniskomplex, um zu sehen, wie er in Wirklichkeit aussieht. Das Risiko verhaftet zu werden ist gross! Es gibt strenge Sicherheitsvorkeh-rungen am Haupteingang, schnell weg! Die Gefängnismauern erstrecken sich über mehrere Kilometer. Die ganze Anlage wirkt noch weitläufiger als auf dem Satellitenbild. Nie waren sie dem Unbekannten so nahe! Falls er noch lebt…
Eine weitere Spur führt nach Irland
In Irland berichtet ein anonymer Ermittler für Geschäftsbetrug über die Identität der Täter, ihren Background und ihre Geschichte. Die Arbeit dieses Mannes war entscheidend für die Suche nach unserem Unbekannten. Nach 20 Jahren Arbeit in China wanderte der Ermittler nach Irland aus, weil er sich nicht mehr sicher fühlte, zu Recht. Im Frühjahr 2023 stürmt die Polizei in Shanghai die drei Sitze von westlichen Wirtschaftsberaterfirmen, die Hausdurchsuchung wird im chinesischen Fernsehen übertragen. Eine klare Botschaft an alle Firmen, die chinesische Unternehmen prüfen! Und an die jeweiligen Regierungen. Unsere Filmemacherin traf ihn in Dublin. Die Geschichte des Unbekannten hat ihn berührt und er sucht nach dem chinesischen Subunternehmer, der ihn ausbeutet. Unser Mann arbeitet im Geheimen, unterstützt von Kontaktpersonen in China. „Es wird immer schwieriger, gegen Gefängnisse in China zu ermitteln, weil das ganze Umfeld immer undurchsichtiger wird, obwohl es nie transparent war. Die Sicherheit der Ermittler ist zunehmend in Gefahr. Er verfügt nun über zwei sehr detaillierte Berichte, mit sehr präzisen Beweisen für die Verbindungen der Fa. Recare zur Zwangsarbeit in diesem Gefängnis. S.E. gebe es nun einen begründeten Verdacht auf Betrug. Er hat alle Adressen im Handelsregister und andere Dokumente mit Recare in Verbindung gebracht, das sind tatsächliche keine Industriestandorte, dort befinden sich nur Büros. Offiziell stellt das Unternehmen viele verschiedene Produkte her. Doch angesichts des geringen Kapitals und der Büroadressen lagert die Firma die Produktion aus. Die Namen von Gefängnisangestellten sind in China geheim. Trotzdem fand dieser Ermittler heraus, dass eine Leiterin des Stadtgefängnisses und eine kaufmännische Leiterin von Recare ein und dieselbe Person sind! Immerhin gebe es heute ein Bewusstsein dafür, dass diese Praktiken in China verbreitet sind und die Menschenrechte dort kaum oder gar nicht eingehalten werden. Früher hat man die Augen davor verschlossen, aus einer Mischung aus Naivität und Gier.
Letzte Etappe Marseille
Von Tianjin nach Marseille… Dort befindet sich der Auftraggeber der Serenity-Tests. Seit 15 Jahren lässt die Fa. Ageti in China produzieren. Der Hilferuf aus China wird dem dortigen Direktor vorgelegt. Es handele sich um ein medizinisches Produkt, erklärt dieser, das dürfe nicht im Gefängnis produziert werden, das sei streng verboten. Doch z.B. die Endverpackung würde auch im Gefängnis vorge-nommen. In diesem Falle könne er keine Untersuchung durchführen, der Fall sei zu komplex. Der Direktor hat später seinen Mailaustausch mit dem Lieferanten bzgl. der Verpackung an ARTE weitergeleitet. Sein Lieferant ist Recare! So schliesst sich der Kreis. Als Zeichen des guten Willens schickt Recare ein Video von 2019 über die Produktionskette auf dem Youtube-Kanal der Firma. Das beweise jedoch gar nichts. Der Direktor fragte Recare direkt, ob sie mit einem Gefängnis kooperieren. Antwort Nein! Doch es könne durchaus sein, dass der letzte Arbeitsschritt im Gefängnis stattfindet. 15 Std. Arbeit am Tag im Gefängnis, ohne Essen, das schockt ihn! Was kann man tun?! Er will eine gründlichere Untersuchung durchführen lassen. Allerdings könnten sie diese Produkte nur in Asien produzieren lassen, sonst läge der Preis 3-4x so hoch! Es gebe keine andere Lösung.
Zurück zum Europarlament in Brüssel
Hier steht das Gesetz zur Lieferkettensorgfaltspflicht auf der Tagesordnung. Eines Tages müssten die Unternehmen reagieren, ihre Lieferketten überprüfen und sich zum Respekt der Menschenrechte verpflichten, darum geht es in diesem Gesetz. Die Abgeordneten haben zwei Tage Zeit, darüber zu debattieren und abzustimmen. Der Brief des Unbekannten könnte dabei eine Rolle spielen. Die Abgeordnete Lara Wolters stellt ihn vor. Anschliessend ergreift Raffael Glucksmann das Wort, er hält den Hilferuf und die Testschachtel in die Höhe. „Dieses Gesetz ist eine juristische Revolution“, ruft er ins Plenum. Abstimmung. Am 1. Juni 2023 wird es im Europarlament verabschiedet. Diese Abstimmung ist ein erster, historischer Schritt! Bleibt zu hoffen, dass Europa auch den nächsten geht : Ein Handelsverbot für Produkte, die durch Zwangsarbeit hergestellt wurden, nicht nur aus Xinjiang. Peter und Darius strahlen auf der Tribüne. Sie haben das Gefühl, die Gerechtigkeit macht Fortschritte, für den Unbekannten und alle Opfer dieses Systems. Ihr Mut war nicht umsonst! Hoffentlich werden sie das eines Tages erfahren!
Am 14.12.2023 wird dann das Gesetz über die Sorgfaltspflicht von Unternehmen hinsichtlich Zwangsarbeit auch im EU-Ministerrat verschiedet, ein weiterer Schritt vorwärts. Es gibt Hoffnung! Nur wird es auch mit solchen Instrumenten in Zukunft schwierig bis unmöglich sein, die Lieferketten insb. grosser Firmen unabhängig zu kontrollieren und Zwangsarbeit in China zu verhindern. Allein in Xinjiang ist die Überwachung durch den Staat perfektioniert. Aber bereits seit letztem Jahr lehnt das deutsche Wirtschaftsministerium Bürgschaften für Projekte in der Region Xinjiang ab. Xinjian, das z.B. mit seiner Solarindustrie für die deutsche Energiewende arbeitet. Der Fortschritt ist eine Schnecke…
Weitere Informationen:
https://www.tagesschau.de/wirtschaft/weltwirtschaft/eu-lieferkettengesetz-menschenrechte-100.html
https://www.tagesschau.de/wirtschaft/weltwirtschaft/reportage-zwangsarbeit-xinjiang-103.html