Und wenn die Demokratie scheitert?
„Die Demokratie ist die schlechteste aller Staatsformen, ausgenommen alle anderen“, befand schon Winston Churchill. Mehr und mehr Bürger und/oder Staatenlenker scheinen ebenfalls dieser Meinung zu sein. Wie kann das sein??
Ist es denkbar, dass die Demokratie in den westlichen Ländern 200 Jahre nach ihrer Anerkennung auch wieder verschwindet? Sich sozusagen freiwillig abschafft?? Die aktuellen Bedrohungen für Rechtsstaatlichkeit wie auch die Medien in und ausserhalb Europas (USA, Türkei) sind Legion: Man denke nur an die Versuche der polnischen Regierung zur Gängelung der Justiz und Presse, an die Einschränkung von Grundrechten und Rechtsstaatlichkeit in Ungarn erst jüngst mit der von Schliessung bedrohten renommierten Soros-Universität, ganz zu schweigen von der völlig ablehnenden Haltung der Ungarn in der Flüchtlingsfrage. Doch auch in Westeuropa werden demokratiefeindliche Töne selbst „normaler“ Politiker zunehmend salonfähig, ermuntert durch das schlechte Beispiel von Populisten.
Der italienische Linguist und Universitätsprofessor Raffaele Simone hat sich nun in seinem 2016 auf Französisch erschienen Buch „Si la démocratie fait faillite“ diesem hochaktuellen Thema angenommen, unter besonderer Beachtung der Verhältnisse in seinem Heimatland, das er am Ende separat behandelt. Ein lesenswerter Einblick in die Problematik, der vor allem die labile Demokratie in Italien erbarmungslos seziert.
Zur Erinnerung der Leser rasch noch einmal die allgemein akzeptierten Kernprinzipien des Begriffs Demokratie : Volkssouveränität, Gleichheit und Partizipation, Mehrheitsherrschaft, Herrschaftskontrolle, Toleranz, Grundrechte, Gewaltenteilung (aktuell ein zunehmend heisses Thema), Mehrparteiensystem, Rechts- und Sozialstaatlichkeit, Wahlen, Pluralismus. Ein antikes Konzept, das im Gefolge der Aufklärung und der französischen Revolution rapide Anerkennung fand.
Ende des 19. Jahrhunderts (und nach den beiden faschistischen „Intermezzi“ Deutschlands und Italiens) und in erste Linie nach dem 2. Weltkrieg habe sich dann das demokratische System rasch und ungeplant beiderseits des Atlantiks durchgesetzt. Und schon glaubte alle Welt, die Demokratie sei damit ein für allemal etabliert. Die USA schwangen sich gar zum „Hüter der Demokratie“ auf.
Bedrohungen der Demokratie
Thema des Buches sind die – auch inhärenten – Bedrohungen der Demokratie und die Gründe für ihre wachsende Ablehnung sowie mögliche Szenarios für die Zukunft. Ein ausländischer Leser hätte sich dabei bisweilen mehr Stringenz in seiner Argumentation gewünscht. Demokratietheoretisch sieht Simone die Demokratie auf drei Pfeiler gestützt: Institutionen, Mentalität und Mythologie. Und alle drei hätten an Stabilität verloren. In ganz Europa stellt er eine Distanzierung der Bürger von den demokratischen Institutionen fest. Das Vertrauen in die Politik sei (in manchen Ländern) zusammengebrochen. Wobei Krisen der Demokratie historisch gesehen mitnichten ein neues Phänomen seien, vom Anfang des 20. Jahrhundert bis zur „Kulturrevolution“ von 1968 bis 1975. Schon in den Achtziger Jahren wurde bemängelt, dass das demokratische politische Projekt für Gesellschaften konzipiert wurde, die viel weniger komplex waren als unsere heutigen. Zu Beginn des Kapitalismus waren die beiden Kontrahenten im Wesentlichen die Arbeiterschaft, die sich ihre Rechte erkämpfen, und die Bourgeoisie, die sich behaupten wollte. Heute dagegen gebe es erheblich mehr Akteure im Konzert der Demokratie, wie z.B. die Grosskonzerne und die Finanzwirtschaft, mächtig, aber schwer zu fassen. Die Aufgabe der Demokratie habe sich gewandelt: Nicht mehr Klassenkampf, sondern Interessenausgleich.
Das demokratische Denken hingegen wie Rechte und Freiheiten bei der Arbeit, politische Meinungsäusserung, etc. und seine Werte scheinen ihm noch intakt zu sein. Trotzdem sieht er es unter Beschuss durch die neoliberalen Doktrinen in Form von Privatisierungstendenzen von öffentlichen Dienstleistungen beispielsweise.
Entfesselte Globalisierung seit dem Fall der Mauer 1989
Ein weltpolitisch tiefer Einschnitt war der Untergang des Kommunismus 1989, mit dem der Startschuss zur Ausbreitung des entfesselten Kapitalismus auf den gesamt Globus gegeben und das linke Denken insgesamt diskreditiert wurde (Anm. d.R.). Heute herrsche gegenüber der Demokratie ein anderes Gefühl als 1945 vor, als es noch um Hoffnung (nach Krieg und Faschismus) und Vertrauen ging: Nämlich Desillusionierung, Ungeduld, wenn nicht gar Feindseligkeit. Das Volk, die normalen Leute, werden ungeduldig und unzufrieden mit den demokratischen Institutionen wie Parlament und Parteien. Sie fühlen sich nicht nur durch die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise von 2008 allen voran auf die südeuropäischen Krisenländer seit 2010 bedroht, mehr noch durch die rasante Globalisierung. Und davon sind Hunderte von Millionen Menschen weltweit betroffen. Auswirkungen zeigten sich in Form eines Rückgangs von Beschäftigung und Wachstum, durch die Ausbreitung von Internet und sozialen Netzwerken. Der Strom der Flüchtlinge nach Europa vor allem seit 2015 trägt seinerseits zur Verunsicherung speziell der Globalisierungsverlierer bei. All dies führte zu einer Schwächung sozialdemokratischer Parteien (z.B. durch die sozialdemokratische Politik der christdemokratischen deutschen Kanzlerin, Anm.d.R.) und zum Aufkommen rechter und populistischer Parteien nicht nur in Frankreich, sondern auch in Nordeuropa („Wahre Finnen“) und sogar in Deutschland („AfD“), eine akute Bedrohung für die Demokratie.
Unzufriedenheit der Bürger mündet in Ad-hoc-Bewegungen
Die demokratische Ungeduld, wenn nicht Verunsicherung der Bürger drückt sich laut Simone auch in bewusster Verletzung der Regeln jeglichen zivilen Umgangs in der Politik und im Internet aus. Besonders typisch sei s.E. das Aufkommen sozialer Bewegungen aufgrund der Ablehnung traditioneller Parteien, die jedoch auch rasch wieder zerfallen können („Occupy Wallstreet“). Aber auch in neue Parteien münden können wie in Spanien die Indignados (Die Empörten), aus denen die Partei „Podemos“ (We can) hervorging. Der Autor analysiert sehr gut die Strukturen, Tragweite und Sprache dieser neuen politischen Bewegungen wie z.B. „Wir sind die 99 Prozent“ (d.h. die Welt wird von 1% der Bevölkerung regiert). Für diese Bewegungen haben die Parteien aus vielerlei Gründen abgedankt, sofern sie sich nicht selbst disqualifiziert haben. Die seien Ausdruck einer mächtigen, anarchischen Energie und gegen das System als solches gerichtet: Geld &Macht, früher Wunschziele, würden mit Verachtung bestraft und lächerlich gemacht. Keine Grossveranstaltung der Mächtigen wie G20-Gipfel mehr ohne Gegendemos. Resultat: Die Mächtigen tagen aus „Angst“ gleich im Geheimen – was den Argwohn der Demonstranten nur noch befördert. Für den Autor sind diese Bewegungen weit mehr als ein Ärgernis, sondern eher ein Hinweis auf „eine Demokratie ohne Politik“, in letzter Konsequenz ein Indiz für eine wahre historische Krise der Demokratie, die wir erleben.
Was für eine demokratische Krise?
Laut Ortega y Gasset definiere sich diese Krise wie folgt :“Man fühlt sich eine tiefe Verachtung gegenüber fast allem, an das man früher geglaubt hat, aber in Wahrheit hat man noch keinen neuen, positiven Glauben gefunden für den Ersatz des traditionellen.“ Für Simone hat die moderne, voll globalisierte Welt ein starkes Gefühl von Angst und Unsicherheit hervorgerufen, gegen das sich die Politik machtlos gezeigt habe. Nur noch wenige politische Beobachter glaubten an die Demokratie als wohlwollende Institution. Mancher hält unsere Zeit schon für eine Phase, in der das demokratische Modell zu Ende gehe. Ein weiterer Faktor, der letztendlich der Demokratie das Leben schwer mache, sei das Auftreten neuer Akteure auf der politischen Bühne wie die mächtige, aber intransparente Finanzwirtschaft oder die zukünftige Weltmacht China, die andere brutal beiseitegeschoben hätten.
Demokratische Fiktionen und demokratische Schwächen
Kerngedanke von Simone sind eine Reihe von demokratischen Fiktionen, anzustrebende Ziele, die allen Verfassungen gemein seien, die indes nie (völlig) erreicht werden könnten, da die Welt nie perfekt sein kann. Aber an die alle Demokraten glauben (müssen). Bestes Beispiel der „Pursuit of Happiness“ in der amerikanischen Verfassung. Eine weitere Fiktion sei die Gleichheit aller Bürger, die ihre Grenzen habe. Neu an der heutigen Lage seien die internen Gefahren, die zu den externen z.B. der Siebziger Jahre hinzukämen, als es nur um den Kommunismus ging. Schon 1974 orakelte Willy Brandt, der doch „mehr Demokratie wagen“ wollte, Westeuropa habe nur noch 20 oder 30 Jahre Demokratie vor sich, danach würde es ohne Motor oder Steuerruder im Meer der (sie umgebenden) Diktaturen untergehen. Brandt konnte weder den Fall der Mauer noch die weitere Integration Europas vorhersehen (Anm.d.R.).
Fakt bleibe, dass die Demokratie sozusagen eingebaute Schwächen aufweise, durch die alle Arten von Feinden einsickern können und gegen die sie keine Schutzmechanismen besitze. Feinde wie antidemokratische Parteien, die demokratisch an die Macht kommen (können), wie der Nazismus, der über demokratische Wahlen an die Macht kam. Sie ist und bleibt fragil. Im Folgenden untersucht der Autor die einzelnen Fiktionen und beleuchtet die Strukturen der Demokratie kritisch. Dafür zieht er alle grossen Demokratietheoretiker der Vergangenheit und Gegenwart zu Rate.
Die Grundprinzipien der Demokratie seien im Grunde nicht realisierbar, aber ideologisch gesehen wahr. Fiktionen seien s.E. auch beispielsweise das Volk als Gemeinschaft von Gedanken, Gefühlen und Willen, der Begriff der Freiheit, das Gleichheitsprinzip, das Volk übertrage seine Souveränität auf seine Repräsentanten. Doch diese Repräsentanten könnten auch Vertreter bestimmter Interessengruppen (z.B. Bankenverband, Autoindustrie) sein. Die wiederum strukturell mehr Macht als die Bürger hätten, und die Regierungen dauerhaft (d.h. über bestimmte Wahltermine hinaus) beeinflussen. Was wiederum den Bürger wegen seiner Machtlosigkeit frustrieren könne. Und der Bürger zieht sich dann gerne zurück, weil er nichts zu sagen habe und sich sowieso nichts ändere, letztlich eine Art von Politikverdrossenheit. Politisches und gewerkschaftliches Engagement sind europaweit bekanntlich seit Jahren rückläufig, die immer grössere Nichtteilnahme an Wahlen gehört ebenfalls in diesen Kontext. Simone hält die Demokratie heute von daher für mindestens „ermüdet“.
Gefahren für die Demokratie
In diesem umfangreichen, sehr lohnenswerten Kapitel befasst sich Simone mit den Grenzen der Gleichheit, dem Schulsystem, ebenfalls unter Beschuss seit 1968, der zentralen Rolle der Parteien, einem Grundpfeiler der Demokratie. Es sind die Parteien, auf die der Bürger in der Demokratie seinen politischen Willen delegiert, was oft genug eine Verstetigung dieser Delegation bedeute. Das wiederum führt oft genug zu Auswüchsen wie Endlosmandaten von Abgeordneten, jüngst erst in Frankreich ein Thema, oder zur Bildung von familiären Dynastien von Herrschenden (siehe Bush-Familie) und zur Bildung von politischen Kasten bis hin zur Gefahr von Oligarchien und damit zu einer Entfremdung von den Wählern.
Die Bedeutung der Medien als Bühne der politischen Sphäre in der Demokratie ist ein wichtiges Thema für sich (s. Kapitel über Italien), abgesehen von ihrer Kontrollaufgabe (Anm.d.R.). Talkshows im Fernsehen z.B. benutzen die Politiker gern als Echokammer für sich selbst und ihre Anliegen, und der Bürger wird stark vom Fernsehen beeinflusst. Insgesamt lässt sich beim Autor ein etwas kulturpessimistischer Tonfall vernehmen, mehrfach beim Thema Zuwanderung und Multikulti, der sogar Anleihen bei Thilo Sarrazin („Deutschland schafft sich ab“) nicht verschmäht.
Die demokratischen Tugenden seien auch nicht mehr das, was sie einmal waren, beklagt der Autor, viele wie Mitgefühl, Scham, das Bedürfnis nach Umverteilung von Überschüssen seien verschwunden. Stattdessen scheine bei den Regierenden die Lüge ein normales Arbeitsinstrument geworden zu sein. Und (Korruptions-) Skandale machten regelmässig Schlagzeilen und unterminieren das Vertrauen der Bürger in die Politik. Selbst die Gleichheit vor dem Gesetz, die höchste demokratische Tugend, habe nachgelassen. Und gesetzliche Massnahmen gegen Hassbotschaften im Internet ergriffen die Gesetzgeber erst jüngst. Kurz, eine Verwilderung und Verrohung der Sitten lässt sich nicht länger leugnen (s. auch Italien).
Die Gefahr der Überdehnung der Demokratie sieht Simone als Folge der Kulturrevolution von 1968 und ihrer Gegenkultur. Unter deren Einfluss, der bis heute reicht, wurde alles infrage gestellt, auch und gerne die Autorität des Staates und der demokratischen Institutionen. Das kann dann zu solchen Auswüchsen führen wie die Jagd auf sogenannte Political Correctness, in Europa, aber vor allem in den USA noch weit verbreitet. Simone prangert die Neigung des Bürgers an, stets neue endlose (möglichst kostenlose) Ansprüche an den Staat zu stellen, von der Gesundheitsvorsorge, über die Schulpflicht bis hin zu finanzieller Unterstützung bei Katastrophen. Diese Rundumabsicherung „im Paradies“ sei übrigens auch ein Aspekt, der s.E. mehr und mehr Menschen aus Osteuropa und ausserhalb Europas anziehe, abgesehen von ihrer Flucht vor Krieg und Vertreibung.
Über diese Gefahren hinaus hebt der Autor das s.E. historisch einmalig feindselige Umfeld der Demokratie heraus: Die moderne Welt sei schon von Haus nicht demokratisch, postuliert er, und dränge nach rechts. Dabei kämen viele Faktoren zusammen: Dabei geht es um die oberen Schichten oder höheren Kreise wie Thinktanks, Grosskonzerne, das Grosskapital mit planetarer Dimension oder insb. elitäre Gruppen wie die Bilderberg Gruppe, die völlig intransparent, „ohne verantwortlichen Chef“ und frei von jeglicher demokratischen Kontrolle agieren und die Politik in vielen Bereichen bestimmen. Ergebnis: Die Bürger gehen wählen oder vielleicht auch nicht, weil sie sich ihrer Machtlosigkeit bewusst sind – und die Oligarchien regieren, schliesst er.
Die Politik sei sich dieser Problematik sehr wohl bewusst, fühle sich jedoch über weite Strecken machtlos. Oft auch stammen die Regierenden selber aus solchen Kreisen (Grossbanken, Multis) wie z.B. Minister in den USA oder auch die EU-Kommission als Ausdruck von Lobbies. In der Folge laufen die (wirtschaftlichen) Entscheidungen der Politiker ins Leere. Ist der Staat also noch wirklich souverän, fragt Simone?
Die Demokratie ausser Kontrolle
Dies ist die alarmierende Bilanz des Autors: Die Herrschenden neigten dazu, sich an ihre Funktionen zu klammern, die politische Klasse selbst tendiere zu absoluter Macht, die korrumpiere. Ausnahme ist beispielsweise die aktuelle demokratische Erneuerung in Frankreich unter Präsident Macron durch eine Vielzahl neuer, unbelasteter Abgeordneter. Dabei setze die Repräsentanz der Bürger totales Vertrauen in ihre Repräsentanten voraus, Sorge um das Gemeinwesen, Ehrlichkeit und Transparenz. Leider hätten die Erfahrungen der vergangenen Jahrzehnte gezeigt, dass die Repräsentanten diese Erwartungen endlos verraten hätten. Bei einfacheren Bürgern bestätigen sich sodann negative Stereotypen der politischen Sphäre über „die da oben“, die alle gleich (schlecht) seien. Eine gefährliche Situation. Denn dann schlägt die Stunde der Populisten oder der Antipolitik. Leider nimmt der Autor zum naheliegenden Thema Populisten keine Stellung.
Demokratie der Zukunft, Kapitalismus der Zukunft
Alle seien sich einig, erklärt Simone, dass über die Form der Demokratie der Zukunft nicht von den Bürgern, sondern vom Weltkapitalismus entschieden würde, der seit 1989 triumphiert. Bis 1989 habe es noch eine produktive Koexistenz von Demokratie und Marktwirtschaft gegeben (heute nicht mehr, Anm.d.R.). Der weltumspannende Finanzsektor sei heute wichtiger als die Fabrik geworden. In den Unternehmen gehe es nicht mehr darum den Kunden zufrieden zu stellen, sondern um die Dividende der Aktionäre. Die Globalisierung, in der es keine nationalen Grenzen mehr gebe, habe sich zu einem völligen juristischen Vakuum entwickelt, im völligen Fehlen sozialer Normen und der völligen Verachtung internationaler Erklärungen und Zielsetzungen von internationalen Organisationen. Nun, es lassen sich zum Glück durchaus positive Trends festmachen wie z.B. der Schutz der Textilarbeiter in Bangladesh. Simone vergleicht die Verhältnisse heute mit dem Freibeutertum vergangener Jahrhunderte. Die Ungleichheit wächst und Wählen nütze gar nichts mehr. All diese Entwicklungen hätten im 21. Jahrhundert zu grosser Ernüchterung gegenüber der Demokratie geführt wie nie zuvor.
Endspiel
In dieser historischen Krise wagt Simone für die Demokratie einen pessimistischen Ausblick. Für ihn ist der demokratische Zyklus der Nachkriegszeit an einen Wendepunkt, wenn nicht gar an sein Ende gekommen. Er erläutert, es gebe Hypothesen, wonach ein politischer Zyklus (ein Regime, eine Regierungsform) 50-60 Jahre dauere. Der demokratische Zyklus seit 1945 halte demnach schon mehr als 70 Jahre an. Laut Rechtswissenschaftler Hans Kelsen habe es obendrein in der Geschichte zeitlich mehr Autokratien als Demokratien gegeben, die sozusagen nur in den Zeiten zwischen den Dramen der Menschheit in Erscheinung traten. Demokratien scheinen weniger Widerstandskräfte gegen ihre Gegner zu haben als Autokratien, die sie bedenkenlos ausschalten können, ein zu vertiefender Gedanke.
Welche Szenarios sieht er für die Zukunft der Demokratie? Jedenfalls keineswegs eine Rückkehr zu einer starken Demokratie, im besten Falle eine „niedrig intensive Demokratie“. Möglich sei auch eine „despotische Demokratie“ oder eine „volatile Demokratie“ (s. Italien), wobei er dramatischere Möglichkeiten ausser Acht lässt. In jedem Falle wird es Neuland sein.
Testfall Italien
Ein düsteres Bild zeichnet der Autor dem uninformierten Leser vom Zustand der Demokratie in seinem Heimatland. Und das mit Aussicht auf Parlamentswahlen noch 2017, spätestens 2018, für die alle Welt schon den Sieg der Populisten der euroskeptischen Fünf-Sterne-Bewegung an die Wand malt.
Niedergang des Vertrauens der Bürger in Politik und Institutionen
Bedroht sei die Demokratie in Italien von einer ganzen Reihe von Faktoren, angefangen vom Niedergang des Vertrauens der Bürger in Politiker und Institutionen. Und das nicht seit gestern, muss hinzugefügt werden. Es sei nur an den Zusammenbruch des traditionellen Parteiensystems in den Jahren nach 1992 durch „Mani pulite“ („Saubere Hände“) erinnert): Anfang der Neunziger Jahre deckte der dadurch berühmt gewordene Staatsanwalt Di Pietro den ganzen Umfang an Privilegien, Amtsmissbrauch, Korruption und Ineffizienz der Bürokratie auf allen Ebenen Italiens auf. Am Ende führten die Ermittlungen zum Ende der sogenannten 1. Republik und zum Zusammenbruch der damals wichtigsten politischen Parteien (DC, PSI). Dutzende neuer Bewegungen und Parteien entstanden daraus, auch Staatsanwalt Di Pietro ging in die Politik mit einer eigenen Bewegung „Italia dei Valori“.
Dieser Niedergang scheint sich s.E. in den vergangenen 4-5 Jahren noch beschleunigt zu haben. So sei von 2010 bis 2014 das Vertrauen der Bürger in den hoch angesehenen Präsidenten der Republik zurückgegangen und das Vertrauen in die sonst ebenfalls hoch angesehenen Richter ebenfalls. Das früher schon geringe Vertrauen in den Staat allgemein liege nunmehr bei mageren 15 %, und dem Parlament vertrauen nur noch jämmerliche 3 %! Mit anderen Worten: Das Vertrauen in die politischen Akteure und Institutionen scheine sich geradezu aufzulösen.
Wo steht Italien 25 Jahre nach dem politischen Beben von 1992?
Ein Grundproblem ist für den Autor die gesamte Problematik des Wahlgesetzes von 2005, über das der letzte Regierungschef Matteo Renzi bekanntlich in seinem Referendum gestürzt ist. Als Ergebnis der Berlusconi-Regierungen war es 2013 vom Verfassungsgericht für verfassungswidrig erklärt worden. Ein Dilemma, da das Parlament in dieser Lage nicht aufgelöst werden konnte, ohne vorher ein neues, verfassungsgemässes Wahlgesetz verabschiedet zu haben. Doch ist ein Wahlgesetz, das von einem verfassungswidrigen Organ verabschiedet wird, nicht ebenso verfassungswidrig? Trotzdem nahm das Parlament 2015 ein neues, nur wenig geändertes neues Wahlgesetz an. Zudem sollte der ebenfalls vom Volk gewählte Senat abgeschafft werden, da er nur eine Kopie des Parlaments sei. Stattdessen sollte der Senat nur von Regionalräten gewählt werden (ähnlich dem Bundesrat). Für den Autor Hinweise darauf, dass mit diesem System das Volk auf Distanz gehalten werden soll, damit die Regierenden frei Hand haben.
Wechsel von einer Partei zur anderen
Gravierender noch erscheinen dem ausländischen Beobachter die instabilen Verhältnisse im Parlament selbst zu sein mit dem dort üblichen ständigen Seitenwechsel der Abgeordneten, bei der Rechten wie auch der Linken Mitte. Ziel dahinter sei oft genug, eine Regierung mit schwacher Mehrheit zu stärken, aber auch die Gewinnung von persönlichen Vorteilen wie z.B. Stellen, die Erneuerung von Kandidaturen etc. 2015 hielt so die seit 2013 herrschende Mehrheit den traurigen Rekord von 173 Abgeordneten aus anderen Parteien! In jedem Falle nahm Renzis Partito Democratico die meisten Überläufer auf. Beppe Grillos Fünf-Sterne-Bewegung verlor 32 Abgeordnete in nur zwei Jahren, nicht gerade ein Vertrauensbeweis. In den zwei Jahren seit Beginn der letzten Legislaturperiode gingen sage und schreibe 250 Fraktionsänderungen von 196 Abgeordneten durchs Parlament und davon wechselten allein 54 mehrfach!
Parlamentarische Auswüchse
Simone beleuchtet eine weitere parlamentarische Fehlentwicklung, nämlich der Missbrauch des Misstrauensvotums gegen die Regierung. Im italienischen Parlament häufen sich die Fälle, in denen das Misstrauensvotum allein deshalb eingesetzt wurde, um ein Gesetz durchs Parlament zu bringen. Diese Fälle betrafen 2014 etwas weniger als die Hälfte der Gesetze. Für ihn bedeutet das letztendlich eine Verschiebung der Legislative auf die Exekutive, die Regierung als Gesetzgeber. So würde die demokratische Gewaltenteilung ausgehöhlt. Simone hält diese Tendenz schon für den Beginn einer autoritären Demokratie.
Unterdessen jonglieren alle Beteiligten aus Politik, Businesswelt, Richtern und Bürokratie munter mit ihren Verbindungen (keine neue Entwicklung im Lande, Anm. d.R.). Zweck sei es einerseits, Druck auf die einen auszuüben, um bestimmte Entscheidungen herbeizuführen, andererseits, in den Besitz von Posten und Pfründen zu gelangen. Das Ganze spiele sich in entsprechenden Kreisen, Klubs oder insbesondere sogenannten gemeinnützigen Stiftungen ab, die ursprünglich Studien oder Vorschläge erarbeiten sollten. In Wirklichkeit kommen sie vor allem in den Genuss von privaten Geldern, die laut Gesetz nicht steuerlich ausgewiesen werden müssen. Wie praktisch! Diese Stiftungen sind also „Schnittstellen“ zwischen Politik und Geschäftswelt. Allerdings dürfte es ähnliche Mechanismen auch in anderen Ländern geben.
Pendeln zwischen Verwaltung und Politik
Auch das Pendeln von hochrangigen Funktionären zwischen Verwaltung und Politik (ähnlich wie in den USA) ist in Italien höchst beliebte Praxis, immer im Dienste der eigenen Karriere, die möglichst endlos und gewinnbringend verlaufen soll. Bei vorübergehender Berufung behielten bestimmte Richter ihre Stelle und ihr Gehalt, zu denen noch eine Entschädigung für die neue Stelle kommt. Auf den ersten Blick nicht unplausibel, als Ausnahmefall. Es gebe allerdings Staatsräte, erklärt Simone, die ihr ganzes Berufsleben lang von einer Stelle zur anderen pendelten und nie die Funktion ausübten, die ihre ursprüngliche war! Ein pervertiertes System. Eine Erklärung für die Ineffizienz der Bürokratie. Diesem Treiben sollte 2015 ein Ende gesetzt werden. Der Präsident des Staatsrates himself protestierte wegen der Unzahl liegengebliebener Fällen genau deshalb – blieb jedoch ungehört. Zu viele Interessen sind dabei im Spiel…
Der Autor sieht gar die Gefahr, dass sich mancher Kandidat für die Parlamentswahlen allein deshalb aufstellen lässt, um sich vor juristischer Verfolgung zu schützen! Und dass die Funktion des Funktionärs nur der Beschaffung von Privilegien diene. Allerdings muss der Leser dabei bedenken, dass die Demokratie in Italien immer auf schwachen Füssen stand, allein aus historischen Gründen, auf die der Autor jedoch nicht eingeht. Insgesamt scheinen bestimmte demokratische Institutionen in Italien nur dazu dienen, ausgeplündert zu werden. Der Staat als Beute für bestimmte Gruppen, die damit ihre Macht, ihre Position und ihren Reichtum für sich selbst, ihre Familien, Freunde und ihre Klientel absichern wollen!
Und wie reagiert der italienische Bürger? Er sagt sich, was soll ich da noch abstimmen gehen? Bringt doch eh nichts. Wen wundert´s, dass die Wahlbeteiligung – wie in anderen europäischen Ländern – , seit Berlusconi 1994 an die Macht kam, immer weiter zurückgegangen ist. Vielfältige Gründe sind dafür verantwortlich, auch in Italien gibt es Politikverdrossenheit. Und wenn zu oft gewählt wird, reagiert der Bürger gereizt. Es sei in Italien daher leicht, Macht zu bekommen bei minimaler Wählerbasis, beklagt Simone. Und welche politischen Werte vermitteln diese mauschelnden Politiker, nur am Eigennutz interessiert und ohne Prinzipien? Ist ihnen klar, dass ihr Verhalten den ehrlichen Bürger nur anwidern kann? Und der Bürger sich sagen wird, soll ich päpstlicher als der Papst sein?
Niedergang der Tugend in der Politik und Elitenversagen
Bestes Beispiel für den Niedergang der Tugend, den der Autor anprangert, sei die „spektakuläre Explosion“ von Korruptionsaffären seitens der Politiker, Mitglieder der Verwaltungen auf allen Ebenen (inkl. der Höchsten) und des politischen Umfeldes, leider ohne konkrete Beispiele zu nennen. Dies belege aufs Beste der internationale „Corruption Perception Index“. Von den derzeit mehr als 950 Abgeordneten der italienischen Kammern wurden mehr als 100 verurteilt, gegen sie wurde ermittelt oder Anklage erhoben. Auch in anderen europäischen Ländern wie z.B. Frankreich gibt es nicht wenige Fälle des heute gerne sogenannten „Elitenversagens“, besonders deutlich im jüngsten Präsidentschaftswahlkampf. Erste Amtshandlung des neuen französischen Staatspräsidenten Macron ein Gesetz zur Moralisierung des öffentlichen Lebens mit drei Punkten: Nicht mehr als drei Mandate hintereinander, keine Beschäftigung von Familienangehörigen (bisher noch legal) und keine Vorstrafen und geregelte Steuerverhältnisse. Laut Umfragen sind drei Vierteil der Franzosen dafür. Alles selbstverständlich in Nordeuropa.
Medien und Pressefreiheit
Dem Thema Medien und Pressefreiheit, sehr sensibel, da ein bedrohter Grundpfeiler der Demokratie in Italien, widmet der Autor ein umfangreiches Kapitel. Laut „Reporter ohne Grenzen“ ist Italien 2014 auf Platz 73 zurückgefallen, ein Absturz um 24 Plätze in nur einem Jahr auf das Niveau zwischen Moldawien und Nicaragua. Woran liegt´s? Simone erklärt diese Entwicklung nicht nur mit Berlusconis Medienkonzentration, dazu später mehr, sondern verweist zunächst auf die immer stärkere Einschüchterung von Journalisten seitens krimineller Organisationen wie der Mafia. Das laufe von körperlichen Aggressionen, Drohungen, Beschädigungen bis zu Angriffen gegen Privatbesitz zu Dutzenden! Er verzeichnet 2014 129 Prozesse wegen Diffamation, wobei indes die meisten dieser Klagen von politischen Persönlichkeiten stammten.
Ein weiterer Faktor sei der auch in Italien bekannte Rückgang der Tageszeitungen durch das Internet. Hinzu komme jedoch die relativ mittelmässige Qualität der Informationen in allen Medien: Teilinformationen, z.T. sehr vulgäre Formen wie Gossenpresse usw. Einen Teil der Journalisten könne man nicht guten Gewissens unabhängig nennen, da mit politischen Gruppen verbandelt. Nicht wenige Journalisten wechseln selbst in die Politik oder arbeiten neben ihrem Abgeordnetenmandat weiter in ihrem Beruf. Die meisten italienischen Medien gehören grossen Medienkonzernen, es gebe nur wenige unabhängige Zeitungen und nicht alle sind landesweit verbreitet.
Moralischer Niedergang des italienischen Fernsehens
Schwerpunk seiner Argumentation ist der unerträgliche Zustand des italienischen Fernsehens und seine Rolle im politischen und gesellschaftlichen Leben. Ein wichtiger Aspekt dabei sei, dass die Fernsehinformationen dem erdrückenden Einfluss der Politik ausgesetzt seien. Die Politiker besetzen die Sendezeiten im Übermass bzw. ein Grossteil der Informationen überschneidet sich mit dem Niveau von Zeitungen oder Zeitschriften in der Nabelschau. Darüber hinaus schielten die Medien ohne Ende nach Prominenten jeglicher Couleur.
S.E. findet der bereits beklagte moralische Niedergang des politischen Systems und der Demokratie seinen Ursprung im italienischen Fernsehen. Hauptverantwortlich dafür waren die Berlusconi Fernsehsender in den 80er Jahren, erklärt Simone, als diese den Wechsel von einem prüden Land zu einem freizügigen bzw. exhibitionistischen Fernsehland einleiteten. Die öffentlich-rechtliche RAI versuchte dann Berlusconis Privatsender ein- bzw. zu überholen. Heute seien alle TV-Sender mehr oder weniger vulgär. Ab den 90er Jahren kamen die Talkshows dazu, in denen Normalbürger ihr Intimstes bis Abartigstes ausbreiten durften/sollten, sich gegenseitig beschimpfen oder gar bedrohen (!), Bösartigkeiten unterstellen bis hin zu Sadismus. Dieses private Modell wurde anschliessend auf politische Talkshows übertragen.
Ab dem Jahre 2000 kamen noch die Realityshows hinzu, einmal mehr gab es keinerlei Grenzen des schlechten Geschmacks mehr. Ein Faktor, den antike Historiker zur Bewertung einer Epoche oder eines Regimes benutzten, sei immer die Frage nach der Moral im Lande gewesen. Verkommene Sitten konnten kein tugendhaftes politisches System ergeben. Heutzutage scheinen moralische Werte und gesittetes Benehmen im öffentlichen Raum, Bereitschaft, positives Handeln und Benehmen lobend hervorzuheben und im Gegensatz dazu, ungeeignetes Verhalten zu kritisieren, nicht gerade hoch im Kurs zu stehen. Dabei fördere eine Missachtung solcher grundlegender Regeln Korruption und Respektlosigkeit bis in die Institutionen hinein, sei eine Gefahr für die moralische Integrität des Landes und führe die Gesellschaft in die Krise.
Auswirkungen der Vulgarität auf das demokratische System
Worauf der Autor zu einer Suada gegen die Verdorbenheit im Lande ausholt : Was die Bevölkerung von den Politikern im Fernsehen vorgelebt bekomme, seien Hohn und Spott, hemmungslose verbale Aggressivität, Grobheit triefe von allen Bildschirmen und sei in das Alltagsleben der Bürger gesickert. Die Werbung tue ein Übriges. Es gebe keinen Unterschied mehr zwischen öffentlichen und privaten Themen, Voyeurismus, sexuelle Anspielungen, persönliche Unterstellungen, heftige Vorwürfe, freche Lügen, all das sei im öffentlichen wie im privaten Raum an der Tagesordnung, empört sich Simone. Ernsthaftigkeit verschwinde fast völlig aus dem öffentlichen Leben. Oberflächlichkeit und Verkommenheit übertönten alles. Und für all diese Fehlentwicklungen steht im Wesentlichen ein und derselbe Name : Der langjährige Regierungschef und Medienmogul Silvio Berlusconi, unglaubliche vier Mal Ministerpräsident des Landes, dem er von 1994 – 2011 seinen Stempel aufdrückte.
Aus dieser Warte habe Italiens innere Verfassung seit Jahren einen historischen Tiefpunkt erreicht, bilanziert Simone. Der moralische Kompass einer ohnehin kulturell fragilen Gesellschaft sei verloren, wenn nicht umgedreht worden. Wo sind die positiven politischen Projekte, die den öffentlichen Diskurs bestimmen? Welche intellektuellen Persönlichkeiten machen ihren Einfluss gelten? Welche visionären Unternehmer oder am Gemeinwohl orientierten Gruppen treten für ihre ambitionierten Projekte ein? Fehlanzeige.
Die italienische Demokratie erscheint mehr noch als andernorts in schlechter Verfassung, sie wird schlecht gepflegt und nur unzureichend geschützt. „…und wenn man nicht aufpasst, nehmen sie einem die Demokratie wieder weg“, sorgte sich die Journalistin Dunya Hayali jüngst in einem Fernsehreport zum Thema Populisten. Dabei ist Italien mit Berlusconi fürs Erste noch einmal davongekommen.
„Si la démocratie fait faillite“, von Raffaele Simone, Le Débat, Gallimard, 2016, 263 S.
https://www.franceculture.fr/emissions/la-grande-table-2eme-partie/peut-encore-sauver-la-democratie
https://www.franceinter.fr/emissions/l-invite-d-ali-baddou/l-invite-d-ali-baddou-18-novembre-2016
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