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Al-Qâhira – Mein ägyptisches Tagebuch 2002 IV

„Nein, geh nicht auf die Toilette“, warnte mich Ahmed entsetzt im Zug nach Alexandria und ergriff meinen Arm, „da ist alles durchgerostet, sonst fällst Du noch auf die Gleise und wirst überfahren!“

Na, reizende Aussichten, dachte ich trübe, nicht nur der Ammoniakgestank, wenigstens nicht so penetrant wie in China, sondern auch noch Gefahr für Leib und Leben! Also hiess es, sich bis zu unserer Ankunft um 12.15 gedulden! Dabei zählte dieser Express noch zu den Besseren seiner Kategorie! Mit seinen türkisfarbenen, speckigen Kunstledersesseln aus den Sechziger Jahren, fühlte mich in ein Flugzeug der Pan Am versetzt. Von Abheben konnte natürlich keine Rede sein, bei 2 ¾ Std. Fahrt für die 221 km. Im Innenraum war es einigermassen sauber, wovon die Fenster sich nicht angesprochen fühlten.

Ahmed hatte insistiert, für uns die Tickets am Ramses-Bahnhof zu erstehen. Mir war es sehr recht, wie sollte ich mich bei zig arabischen Zahlen am Schalter verständigen, Abfahrtszeiten, Ankunftszeiten, Preise, Gleisnummern, Tücken ohne Ende, ein Albtraum! Da hätte ich am Bahnhof wahrlich Bahnhof verstanden. Wir wären Gefahr gelaufen, statt in Alexandria am anderen Ende von Ägypten, am Assuan-Staudamm zu landen! Er erzählte mir von einem Luxuszug, eine Art TGV nach Alexandria, doch der hätte wohl mein Budget gesprengt. Denn ich hatte bei meinen Nachforschungen für eventuelle Ausflüge ins Landesinnere entdeckt, dass die Ägypter für im Lande lebende Ausländer andere, sprich: höhere Preise anwenden, und zwar ziemlich happige! Was mich letztlich von einem Trip nach Abu Simbel abgehalten hatte.

Als ich Ahmed auf einen Ausflug nach Alexandria angesprochen hatte, war seine erste Reaktion gewesen „No problem“. Das wiederum hatte mich erst richtig verunsichert. Denn wie sagte Birgit? „Wenn ein Ägypter ´no problem´ sagt, dann kann man die Sache getrost vergessen, das klappte nie! Aber wenn man ein bedenkliches ´this is impossible´zu hören bekommt – dann gab es Anlass zur Hoffnung!“ Doch meine Sorgen waren unbegründet gewesen.

Die Fahrt durch das Nildelta war sehr kurzweilig gewesen. Ahmed witterte Morgenluft, was mich betraf, obwohl ich ihn keiner Weise ermutigt hatte. So verwickelte er mich immer wieder in intime Diskussionen (wobei ich hoffte, dass die anderen Reisenden uns nicht verstehen würden…), die ich nur schwer abwürgen konnte. Und dauernd fummelte er an mir herum, ich konnte ihn kaum ablenken.

Er gestand mir Kontakte zu einer alten Amerikanerin, die sei schon 52 gewesen! Sie hatte ihm angeboten, bei ihr zu wohnen, sie würde ihm auch eine Greencard besorgen. Er hatte indes dankend abgelehnt, wollte sich nicht verkaufen! Wenn der Gute wüsste, dachte ich lächelnd. Und sprach von einer Ukrainerin, einer Putzfrau in Holland, die er traf – wie ein Model sah sie aus! Na, vielleicht eine von der Sorte, die mit „Nacktputzen“ ihr Geld verdient. Und zweimal habe er bei Prostituierten gekniffen, einmal davon in Hongkong.

„Da verdrückte ich mich dann mit „ich geh mal schnell in die Apotheke, Verhüterli kaufen!“, lachte er über seine treffliche Ausrede. Und einmal in Kairo.

Laut Al Ahram gab es viel sexuelles Elend in Ägypten, was mich nicht verwunderte bei diesen puritanischen Sitten hier.

Und er liess nicht locker „Sag mal, was sind eigentlich die erogenen Zonen der Frau“, begehrte zu wissen, während wir durch die Baumwollfelder brausten. Und viel Unwissenheit, Oswalt Kolle war noch nicht vorbeigekommen. Ich zierte mich. Wo waren wir denn?! Wenn überhaupt, dann würde ich ihm das nur an etwas weniger öffentlichen Plätzen dartun. Aber er tat mir leid. Wo sollten die Leute denn ihre Infos herkriegen?!

„Nicht hier“, wehrte ich ab und schaute in die andere Richtung aus dem Fenster. Bauern wateten in Reisfeldern.

„Erzähl mir doch mal was von Alexandria“, bat ich ihn, um das Thema zu wechseln.

„Was gibt es denn dort zu sehen?“

„Oh, sehr viel“, meinte er beiläufig und nahm unauffällig meine Hand. Wenigstens das wollte ich ihm nicht verwehren.

„Zuerst gehen wir zum Strand, zum Fort Kait Bey, wo der Leuchtturm stand. Anschliessend zur Terbana Moschee, zur El-Korbagi Moschee und zur El-Mursi Moschee. Und dann noch die Katakomben, wenn Du willst.“

„Ok, Hauptsache, die Zeit reicht für all das“, erwiderte ich. Und liess ihn machen.

Die Gründung Alexandrias, liebe Leserin, geht zurück auf – na, wen wohl? Alexander den Grossen! Zeiten der Ptolemäer, der Griechen, in Ägypten. Einige wohnen dort bis heute, wenngleich viele in den Fünfziger Jahren in die Heimat zurückgekehrt sind. Nicht nur die Römer, auch die Griechen hatten beträchtliche Spuren in allen Teilen der Stadt hinterlassen. Es heisst, dass Alexander dem Grossen niemand geringeres als der Dichter Homer von 750 vor Chr. im Traume erschienen war und ihm diesen Flecken an der Nordküste Ägyptens beschrieben hatte, gegenüber einer kleinen Insel namens Pharos… Wussten Sie, dass im Französischen das Wort für Leuchtturm „phare“ lautet…? Kommt aus dem Griechischen.

An jener Stelle erbaute Alexander 331 v. Chr. also seinen Leuchtturm und eine der grössten Städte des römischen Imperiums, einen bedeutenden Handelshafen. Wovon heute nicht mehr viel übrig war, zu gross die ungelösten Probleme, von starkem Bevölkerungswachstum bis Wasserverschmutzung über Wohnungsnot und unzureichende Infrastruktur. Auch der berühmte Stein von Rosetta, mit dem es gelang, die ägyptischen Hieroglyphen zu entziffern, war an dieser Küste zu verorten. Diese Stele aus dem Jahre 196 v. Chr. enthielt dreimal denselben Text, in Altgriechisch, Demotisch und den Hieroglyphen.

Irgendwann gelang es mir, ein wenig zum Fenster hinauszuträumen und meinen Gedanken nachzuhängen. Kaum hatte ich ein wenig Musse, deprimierte mich die unklare Lage mit Arne aufs Neue und wie ich sein Schweigen bloss verstehen sollte. Diese Ungewissheit konnte einen fertig machen!

Als könnte er Gedanken lesen, machte mir Ahmed ein Angebot, das mich abgelenkt hätte : Mit mir in den Urlaub zu fahren! Wir könnten uns Hongkong treffen! Eine gemeinsame Reise! Der spinnt, dachte ich entgeistert. Dabei wusste er, dass ich Arne liebte und er mich!

„Nein, also wirklich, Ahmed, das geht zu weit! Wir kennen uns doch kaum und bald fahre ich wieder nach Hause! Ausserdem habe ich Arne, wie Du weisst“, wehrte ich ab.

„Wir spielen nur miteinander“, bemerkte er bitter und schaute geradeaus. Ich erwiderte nichts.

Mittags auf dem Bahnhof Ramlah von Alexandria angekommen als Erstes Kurs auf die dortigen Örtlichkeiten – die anders, aber ebenso indiskutabel wie im Zug waren. Allmählich wurde es dringend. „Gehen wir einfach in das beste Haus am Platze“, schlug ich ihm reiseerfahren vor. Auf in das Hotel Cecil am Hafen.

Endlich Zeit für das Wesentliche! Unsere Rückfahrt war für 17.10 angesetzt. Der Wettergott meinte es gut mit uns, mitten im Dezember am Mittelmeer, eine Ahnung von Sommer, mit blauem Himmel und warmen Temperaturen.

„Zuerst zeige ich Dir das Fort von Kait Bey am Hafen, hier entlang.“ Ahmed kannte sich gut aus und managte alles sehr gut, das musste man ihm lassen.

„Hier stand früher der berühmte Leuchtturm von Alexandria, damals eines der sieben Weltwunder, kein Gebäude der Welt war höher in der Antike. Der jetzige Leuchtturm wurde im 14. Jahrhundert auf den Fundamenten des durch ein Erdbeben zerstörten antiken Leuchtturms errichtet. Hier, siehst Du, das Fundament ist viereckig, 30 x 30 m, über 100 m war er hoch!  Heute wird der Hafen nur noch von Fischern und Ausflugsbooten benutzt“, schloss er.

Ja, die Zeiten der dicken Ozeandampfer aus Europa waren lange vorbei, das Flugzeug längst erfunden, sinnierte ich eine Spur melancholisch. Melancholie lag mir heute. Das heutige Fort bewachte den Hafeneingang. Schulklassen strömten aus dem Fort, mit Luftballons in der Hand, die kleinen Mädchen warfen mir wieder neugierig ein „How do you do?“ zu.

IMG_0009An der zum Meer offenen Strandseite hockten ein paar junge Leute auf der breiten Mauer. Andere Touristen und einheimische Paare flanierten den braunen Strand entlang oder auf der Corniche. Der naive Beobachter hätte auch uns für ein Liebespaar halten können. Ich wusste es besser.

„Und jetzt noch zum Hafen“, richtete Ahmed unsere Schritte. Tapfer trug er meine braune Daunenjacke, marschierte immer voran. Vom Hafen aus hatten wir einen schönen Blick auf die „Skyline“ von Alexandria, worunter die Leserin sich zum Glück keine Hochhäuser vorstellen musste. Blau-senfgelbe Fischerboote lagen auf dem Sand oder ankerten in Reih und Glied im Hafen. Fischer flickten weisse Nylonnetze. Möwen kreischten in der milden Luft.

Was fällt Ihnen noch zu Alexandria ein, liebe Leserin – ein paar Stichworte, bitte. Bibliothek, richtig. Die berühmteste Bibliothek des klassischen Altertums, Teils des Museions, entstanden ca. 300 v. Chr. durch König Ptolemaios, nach dem Vorbild der griechischen Philosophenschulen. War nur nichts mehr übrig, von der antiken Bibliothek, meine ich, verbrannt. Wann und wo, darüber streiten die Gelehrten. Vielleicht waren es auch die Christen im 4. Jahrhundert nach Chr. gewesen. Oder gar die Moslems 642, als Alexandria vom Islam erobert wurde. Sagt doch der Koran selbstherrlich „Bücher, deren Inhalt mit dem Koran übereinstimmen, werden nicht benötigt, diejenigen, die dem Koran widersprechen, werden nicht gewünscht. Zerstört sie also.“ Wo hatten wir das gleich jüngst erlebt? In Afghanistan? In Mali?

Über 700.000 Schriftrollen aller Völker und Zeiten hatte sie einst umfasst, auch die Bücher des Aristoteles! Wahre Büchernarren müssen das gewesen sein, wissbegierig, sie schreckten nicht davor zurück, regelmässig die im Hafen liegenden Schiffe nach interessanten Büchern zu durchwühlen – die sie ihren Besitzern nur in Abschrift wiedergaben. Waren mir sympathisch, diese Leute.

In Anknüpfung an diese ruhmreichen Zeiten war in jenem Herbst in Zusammenarbeit mit der UNESCO eine neue, moderne Bibliothek eröffnet worden, mit allem, was die Neuzeit aufzubieten weiss: Ausstellungen, alte Schriften, Exponate antiker Kunst, ein Kulturzentrum mit Musik und Theater und sogar ein Planetarium. Mit einem scheibenförmigen Glasdach zum Meer hin, wie ein gelandetes Ufo. Hoffentlich blieb die Bibliothek kein Ufo in der Stadt!

Vorbei am Fischmarkt und manchem Fisch mit grossem, weitaufgerissenem Maul steuerten wir als nächstes die wichtigste und zugleich prachtvollste Moschee Alexandrias an, die Moschee „Abu Abbas El-Mursi“, wie der letzte, gleichnamige, sehr umstrittene Präsident des Landes, von der Moslembruderschaft. Dieser Mursi war vielmehr ein Heiliger aus Andalusien gewesen. Und die Moschee mit ihrem achteckigen Grundriss nach dem Vorbild des Felsen-doms in Jerusalem, so antik sie auch aussah, wurde doch erst 1945 fertiggestellt! Wir umrundeten den gesamten, palmenbestandenen Moscheevorplatz – und stiessen auf eine Schafherde!

„Die sind für das Opferfest in vier Wochen“, klärte Ahmed mich auf, „ein sehr wichtiges Fest“.

„Was für ein Fest ist das denn“, wollte ich ahnungslos von ihm wissen.

„Nun, das ist Eid al-kabir, das grosse Fest, zum Angedenken an das Opfer, mit dem Allah den Propheten Ibrahim, bei Euch Abraham genannt, und sein Gottvertrauen auf die Probe stellte und verlangte, ihm zu Ehren seinen Sohn Ismael zu opfern. Als Allah sah, dass Ibrahim ihm gehorchte und dazu bereit war, ihm die Kehle durchzuschneiden, gebot er ihm Einhalt. Aus Freude darüber opferte Ibrahim mit seinen Freunden und Bedürftigen Gott zu Ehren einen Widder. Auch die Bibel kennt diese Geschichte mit Sohn Isaak“, klärte er mich auf. „Jeder gläubige Moslem, der es sich leisten kann, ist daher verpflichtet, am Opferfest ein Schaf zu schlachten“.

„Aha, das ist eine Pflicht – hätte ich nicht gedacht!“ Und mit Abraham mein erster Hinweis auf den gemeinsamen Ursprung der drei abrahamitischen Religionen oder Religionen des Buches, wie es heisst, mit einer Heiligen Schrift, also Islam, Judentum und Christentum. Spannend finde ich immer die Beziehungen, wenn nicht die Ähnlichkeiten zwischen den drei monotheistischen Religionen.

IMG_0012Nebenan die Terbana Moschee, kleiner als ihre grössere Schwester und älter, aus dem Jahre 1677. Nach einem Abstecher zur El-Korbagi Moschee entführte Ahmed, ganz Kavalier alter Schule, mich zum Mittagessen in ein gutes, vor allem sauberes (!) Fischrestaurant im Stadtteil Manchiya namens „Shaaban“, das Beste am Platze, wie er sagte, wo alle essen gehen, die aus Kairo kommen. Und preisgünstig! Wir liessen uns an einen der Tische draussen auf der Strasse nieder mit weissen, frisch gewischten Plastiktischdecken, gefegtem Fussboden und blitzblanken, weissgekachelten Wänden. Der frisch gefangene Fisch wurde auf der Strasse direkt abgewogen, gebraten oder frittiert, ganz nach Wunsch. Fachmännisch suchte Ahmed drei Fische für uns aus, einen gebratenen und zwei frittierte. Sah appetitlich aus, mit braunem Reis und 2x Salat, Baguette und Tajinesosse. Summa summarum 78 L.E. für zwei, inklusive Getränke! Wir waren beide sehr angetan, futterten in der Dezembersonne im Freien, der Wind zauste an den Haaren. Fast wie im Urlaub!

Frisch gestärkt brachen wir alsbald in Richtung Katakomben von Kom El-Schukafa auf, die Zeit drängte und ich hatte so etwas noch nie gesehen. Ahmed rief uns ein Taxi in Richtung Pompeiussäule. In der Intimität des Taxis liess er sich plötzlich zu einem Geständnis hinreissen.

„Und in den Katakomben werde ich Dir einen Kuss geben! Denn in der Öffentlichkeit ist Küssen verboten in Ägypten“.

Ich war sprachlos, über jede einzelne Feststellung.

Weiter hasteten wir ein Stück durch das Basarviertel mit einfachen Häusern; ein schwarz verölter Kesselwagen, mit rabenschwarzen Kanistern behängt, stand an der Strasse, von dem aus Kerosin zum Kochen verkauft wurde! Wie vor 100 Jahren! Heute sassen Familien auf der Strasse und schauten fern. Wohnzimmer im Freien. „Schnell, schnell“, feuerte mich Ahmed immer an. „Wir haben keine Zeit! Unser Zug!“

Endlich hatten wir wenigstens die 27 m hohe Pompeiussäule auf einem Kalksteinhügel erreicht, bewacht von einer Sphinx und von einem kleinen, ansprechenden Park umgeben, im Vergleich zu der Wüstenei Kairo, das Ganze eingezäunt. Und als wir uns daran machten, den Obulus am Eingang zu entrichten, geschah das Erstaunliche : Da wollten die Wächter dieser Unterwelt doch Ahmed als Einheimischem nicht mit mir zusammen Einlass gewähren! Ich stand entgeistert neben ihm, während er palaverte und verstand kein Wort. In seiner Not (!) gab er sich als mein Mann aus, wie er mir anschliessend lachend beichtete (wird ihn nicht allzu viel Überwindung gekostet haben) – da liessen sie ihn rein! In Begleitung eines Führers als Anstandswauwau, den Ahmed fachlich und sprachlich leicht ausstechen konnte.

„Die Säule ist aber nicht von Pompeius, obwohl sich unter ihr angeblich sein Grab befinden soll“, erläuterte mein persönlicher Fremdenführer. „Unter dem Hügel soll sich eine Art Bibliothek befinden mit Nischen, in denen angeblich Papyri steckten“, fuhr er fort. „Andere meinen, da steckten Graburnen drin oder heilige Tiere, wie Stiere, wären dort beigesetzt.

Abstieg in die Unterwelt. Unser Führer wartete draussen, soweit ging die Aufsicht nicht. Echt leichtsinnig! Eine Art Wendeltreppe führte uns in die Tiefe dieser grössten Grabanlage der Römer in Ägypten, drei Stockwerke tief. „Die Katakomben stammen aus dem 2. Jahrhundert n.Chr.“, wusste Ahmed. Am Eingang zwei recht kleine Standbilder eines Mannes und einer Frau in einer Nische, in Kleidung und Haltung ägyptisch, die Frisur griechisch, so plastisch, als ob sie gleich heraustreten und uns die Hand schütteln wollten. Oder uns mitnehmen.

Sarkophagnischen über Sarkophagnischen, an manchen Stellen stiegen wir über Holzbretter. Ahmed zeigte mir den Versammlungsraum für Verwandte und Freunde des Verstorbenen zum Leichenschmaus. Mit uns besichtigte ein älteres Ehepaar die Örtlichkeiten, Italiener. Irgend-wie beruhigte mich das, nicht nur wegen Ahmed. In einem Glaskasten waren Gebeine von Pferden und sogar Jugendlichen ausgestellt, Opfer eines Christenmassakers des Kaisers Caracalla! Rauhe Zeiten.

Natürlich fehlte in diesem „Friedhof“ auch die Grabkapelle nicht, Eingang unter einem Rundgiebel, eine Kreuzung aus altägyptischen und griechischen Symbolen. In dem dämmrigen Licht waren die Hochreliefs schwer zu erkennen. Ich identifizierte den Pharao, nein, das musste der römische Kaiser sein, Ägypten war damals Teil des Römischen Reiches. Er reichte einem Stier-Gott Apis mit Sonnenscheibe zwischen den Hörnern einen grossen Halsschmuck. Immer wieder dieser Stier-Gott. Hinter dem Stier die Schwingen der Göttin Isis, wie ich sie in Basalt auf meiner Nilkreuzfahrt erstanden hatte. Um diese Zeit hatten sich auch die Römer vom Isis-Kult anstecken lassen. Und während ich in die Darstellungen der Götterwelt vertieft war, spürte ich plötzlich zwei Hände meine Taille ergreifen, mein Götterbote Ahmed drehte mich um. Und ehe ich Gelegenheit hatte, Widerstand zu leisten, setzte er mir einen Schmatzer auf die Lippen!

„Ahmed!“, rief ich lachend aus und entzog mich ihm in Richtung Treppe. „Jetzt gehen wir aber wieder rauf! Das reicht für heute“. Ausserdem fingen meine Augen anzutränen und niesen musste ich auch. Wer weiss, war sich hier für allergene Pilze tummelten, von vor 2000 Jahren! Nicht, dass mich noch ein Fluch traf wie weiland die Archäologen um Howard Carter bei der Ausgrabung des Grabes von Tutanchamun.

„Oh je, wie spät ist es?“ berappelte er sich. „Unser Zug geht um fünf Uhr! Jetzt aber los!“

Wir kletterten so schnell wie möglich die Treppe ans Tageslicht hinauf. „Nicht mal Zeit für einen Kaffee haben wir übrig“, lamentierte er und nahm zwei Stufen auf einmal. Hasteten in Richtung Bahnhof. Am Bahnhofsplatz erwartete uns lebhaftes Markttreiben, die gelbe Strassenbahn schob sich langsam quietschend durchs Getümmel. Ich fiel mal wieder einer Patisserie mit ihren kunstvollen Pyramiden aus triefendem Zuckerwerk zum Opfer.

IMG_0013Wa l-hamdu-l-illah! Rechtzeitig sassen wir im Zug und schwatzten noch ein wenig bis zur Abfahrt. Ich gab ihm ein paar Tipps, wie oder wo er eine Frau kennenlernen könnte, aus europäischer Sicht und Erfahrung, sofern sich diese auf Kairoer Verhältnisse übertragen liessen.

„Guck doch mal bei Dir im Krankenhaus, ob da ein nettes Mädchen rumläuft. Oder hast Du einen Freund, der eine Schwester hat, die Dir gefallen könnte? Oder eine Freundin Deiner Schwester! Oder gibt es Bekannte von anderen Verwandten?“ Warum in die Ferne schweifen?!

Nur um als Antwort zu bekommen:

„Sag mal, wo sind eigentlich die erogenen Zonen der Frau“, fing er wieder an. Was konnte der hartnäckig sein! Ich blieb stumm. Touchy issue. Alles hatte seine Grenzen. Stattdessen liess ich mich dazu hinreissen, ihm ansatzweise von meinen Leiden mit Julius zu erzählen. Damit er einmal sah, mit was für Zeitgenossen ich mich in Europa herumschlagen musste.

Um 20 Uhr hatte uns Ramses Central wieder. Im Taxi fuhr ein jeder unspektakulär zu sich nach Hause. Wir sollten uns nicht mehr wiedersehen vor meiner Abreise.

Auszug aus „Cosmo Girl“ von Barbara Werner

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